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Kurzinfos Mai 2011Schweiz für soziale Mindestnormen
Die Schweiz hat anlässlich der Konferenz der Arbeitsminister der 20 grössten Industrie- und Schwellenländer (G-20) zum Thema Beschäftigung eine vom G-20-Gastgeber Frankreich unterstützte Initiative zur Stärkung der sozialen Dimension der Globalisierung vorgestellt. Bundesrat Johann Schneider-Ammann sagte in Paris, Ziel des Vorstosses sei es, der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) bei der Etablierung weltweit akzeptierter sozialer Mindeststandards und sozialer Grundrechte eine zentrale Rolle zu geben.
Die Schweiz will die Resolution bei der IW-Generalkonferenz im Juni 2011 in Genf vorlegen. Schneider-Ammann betonte die Notwendigkeit, in dieser Frage eine engere Zusammenarbeit zwischen den Staaten und intemationalen Organisationen wie der ILO, aber auch mehr Kohärenz zwischen der ILO, der Welthandelsorganisation (WTO), dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und anderen Gremien herzustellen. Die Schweiz nahm auf Einladung Frankreichs, das derzeit den G-20- Vorsitz innehat, an der Konferenz teil. Es gehört zu den Prioritäten der französischen G-20-Präsidentschaft, eine engere Abstimmung der Wirtschafts- und Sozialpolitik und eine grössere Solidarität unter den Staaten herzustellen, sowie generell die soziale Dimension der Globalisierung zu stärken. Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy sagte bei der Konferenz, es sei nicht akzeptabel, wenn acht von zehn Menschen auf dieser Welt keinerlei sozialen Schutz genossen. Es gehe aber nicht darum, überall die gleichen Standards zu implementieren, sondern mehr soziale Gerechtigkeit zu schaffen. Sarkozy erinnerte daran, dass die Zahl der Arbeitslosen durch die Wirtschaftskrise in den G-20-Ländern um 30 Mio. gestiegen sei und die Ungleichgewichte zugenommen hätten. Frankreich bemüht sich seit den G-20-Gipfeln von Pittsburgh (2009) und Washington, solche Fragen auf die Agenda zu setzen, und hat das Thema zu einer der Prioritäten seiner Präsidentschaft gemacht. Sarkozy strebt auch an, dass Hilfszusagen, etwa der Weltbank oder des IWF, an die Einhaltung bestimmter ökologischer oder sozialer Standards geknüpft werden.
Bei der Konferenz wurde betont, dass die Einrichtung sozialer Sicherungssysteme dauerhaftes Wachstum und soziale wie politische Stabilitat fördern könne. Schon deshalb sei ein universeller und effektiver Zugang zu sozialen Leistungen sicherzustellen. Ohne Zweifel haben durch die globale Wirtschafts- und Finanzkrise die Ungleichgewichte teilweise zugenommen, doch die Frage der Einhaltung von Mindestnormen auf sozialem oder ökologischem Gebiet wird von einigen Ländern auch für nationale Interessen instrumentalisiert. So hat Frankreich wiederholt Sanktionen wie Importbeschränkungen gegen «widerspenstige» Länder ins Spiel gebracht. Bundesrat Schneider-Ammann sprach sich gegen solche Vorgehensweisen aus und betonte, die Schweiz trete für frei zugängliche Märkte ein. Alle Länder müssten an der Entwicklung der Wirtschaft teilhaben können. NZZ, 23. Mai 2011, S. 23
Festungsgraben Europa Tausende Migrantlnnen und Flüchtlinge sind seit Februar 2011 auf Lampedusa und Malta angekommen: Anfangs waren es vor allem Tunesierlnnen. Zunehmend sind es nun Flüchtlinge aus Libyen - darunter auch Afrikanerlnnen von südlich der Sahara, die bisher in dem Land festsassen. Wie viele Menschen bei der Überfahrt ertrunken oder - mitten im Meer -verdurstet sind, wird man nie genau erfahren.
Die Abriegelung Europas begann mit einem Beschluss des damaligen Schengener Exekutivausschusses, der im Frühjahr 1991 die Visumspflicht für den gesamten nordafrikanischen Raum verhängte. Sieht man von den begrenzten Möglichkeiten des Familiennachzugs und des Asyls ab, war damit für Menschen aus diesen Ländern der legale Weg nach Europa verbaut. Fischer- und Schmugglerboote blieben wenn auch als riskanter Ausweg - und zwar sowohl für Nordafrikanerlnnen, ais auch für die Armuts- und Bürgerkriegsflüchtlinge aus weiter südlich gelegenen Ländern des Kontinents.
Die Visumspflicht war nur der erste Schritt. Seit den 90er Jahren versuchte die EU, die nordafrikanischen Staaten zu Pufferstaaten ihrer Abschottungspolitik zu machen. Anders als an den östlichen Aussengrenzen, wo die Übernahme dieser Funktion beispielsweise durch Polen zunächst zur Visumsfreiheit und schliesslich zum EU-Beitritt führte, blieb den Ländern südlich des Mittelmeers diese Belohnung versagt. Sie wurden stattdessen mit beschränkten Einwanderungsquoten und Brosamen der Entwicklungshilfe abgespeist. Grosszügig bedacht wurden dagegen die Repressionsorgane dieser Staaten.
Dass Tunesien kein «zuverlässiges» Asylverfahren aufwies, dass Libyen nicht einmal die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet hat, störte die EU und ihre Mitgliedstaaten nicht sonderlich. 1999 schloss ltalien einen ersten Vertrag mit Tunesien, 2003 einen weiteren. Ein Jahr danach gab es in Tunesien 13 mit italienischem Geld finanzierte Ausschaffungshaftzentren, meist an geheimen Orten.
Seit Mitte der 90er Jahre hatte Libyen seine Wirtschaft - und das hiess insbesondere seine Öl- und Gasförderung - für ausländische Investoren geöffnet. 2003 wurden die internationalen Sanktionen gegen das Ghadhafi-Regime förmlich beendet. Bereits zuvor, nämlich seit dem Jahre 2000, hatte Italien mit Libyen erste Vereinbarungen über „illegale Einwanderung“ getroffen. 2003 schlossen Berlusconi und Ghadhafi ein weiteres Abkommen, das erstens den Bau von Lagern für „illegale Immigranten“ vorsah; „menschenwürdige Bedingungen“ sollten dabei gewährleistet werden. Libyen erhielt zweitens Boote, Jeeps, Radargeräte und selbst Tausend Leichensäcke für den „Schutz“ seiner Grenzen. Und schliesslich finanzierte Italien Ausschaffungsflüge in afrikanische Drittstaaten: Flüchtlinge aus Ländern, mit denen Libyen ein Rückübemahmeabkommen hatte, wurden auf dem Luftweg ausgeschafft. Von August 2003 bis Ende 2004 waren das insgesamt 5688 Personen. Andere verblieben zum Teil über Jahre hinweg in den mit europäischer Hilfe errichteten La gern oder wurden einfach in der Wüste abgesetzt.
Der Text des Abkommens von 2003 ist nach wie vor geheim, sein Inhalt hingegen wurde bekannt durch den Bericht einer EU- Delegation, der „Technical Mission on Illegal Migration“, die Ende 2004 Libyen besuchte. 2007 war erneut eine EU-Delegation in Libyen, diesmal war es bereits die 2005 gegründete EU-Grenzschutzagentur Frontex, die die „Mission“ organisiert hatte. Man besprach mit den libyschen Regierungs- und Polizeivertretern nicht nur, wie sie im Interesse der EU die Küsten überwachen, sondem auch, wie sie bereits ihre südlichen Grenzen gegen die Flüchtlinge aus dem Innern des Kontinents absichem sollten.
Die Einbindung der Pufferstaaten und die Frontex-Operationen im westlichen und zentralen Mittelmeer waren erfolgreich. Die Zahl der in Italien ankommenden Flüchtlinge ging nach 2008 erheblich zurück. Die Fluchtrouten verlagerten sich in den Osten. Im Oktober 2010 sandte Frontex „Soforteinsatzteams“ an die griechisch-türkische Grenze, um auch diese Lücke in den EU-Aussengrenzen zuverstopfen.
Frontex verkündet auf seiner Homepage nach wie vor, dass die Agentur mit den Grenzpolizeien Tunesiens und Libyens ein „working arrangement“ anstrebe. lm Oktober 2010 besuchte EU-Kommissarin Cecilia Malmstrom Tripolis und unterzeichnete eine „Kooperationsagenda“ in Sachen Migration. Ein umfassender Vertrag zwischen beiden Seiten, der auch die wirtschaftliche Zusammenarbeit einschliessen sollte, stand vor dem Abschluss.
Vorerst sind diese Projekte auf Eis gelegt. Frankreich und Italien haben aber bereits die See-Patrouillien vor der tunesischen Kuste verstärkt. Eine von Frontex koordinierte gemeinsame Operation rund um Lampedusa läuft seit Februar, eine weitere vor Malta ist vorgesehen. Ob sich Tunesien nach der Ära Ben Ali dem Druck der EU-Abschottungspolitik entziehen kann, ist sehr fraglich. Italien konnte der Übergangsregierung Anfang April bereits eine Vereinbarung aufnötigen und will 300 Mio. Euro an den Ausbau des tunesischen Grenzschutzes zahlen. Die libyschen Aufständischen setzen im Bürgerkrieg auf die Bomben und Raketen der Nato. Falls es ihnen gelingt, Ghadhafi zu entmachten, werden sie sich kaum den Wunschen von Sarkozy & Co. verschliessen können. Solidarité sans frontières, Nummer 2, Mai 2011, S. 8
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Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass Das Weißbuch zur EU-Verkehrspolitik will ehrgeizige Ziele ohne durchgreifende Maßnahmen erreichen Das neue Weißbuch von EU-Verkehrskommissar Siim Kallas verfolgt ehrgeizige Ziele für die kommenden Jahrzehnte: Europas Verkehrssektor soll Emissionen reduzieren, Güter auf die Schiene bringen, urbane Mobilität und „grünere“ Verkehrsträger fördern. Doch vom Verkehrswachstum soll Europa nicht abweichen und die tatsächlich wirksamen Maßnahmen werden 20 Jahre aufgeschoben.
Von HEIKE AGHTE, BÜNDNIS LSVA FÜR EUROPA
Verglichen mit dem Titel des neuen EU-Weißbuchs zum Verkehr waren die früheren geradezu poetisch: „Time to decide“ hieß 2001 das erste, „Keep Europe moving“ war die Zwischenbilanz von 2006 überschrieben und „A sustainable future for transport“ war der erste Arbeitstitel für das vorliegende verkehrspolitische Weißbuch, an dem seit 2009 gearbeitet wurde. Letztlich heißt es nun staubtrocken „Fahrplan zu einem einheitlichen europäischen Verkehrsraum – Hin zu einem wettbewerbsorientierten und ressourcenschonenden Verkehrssystem“. (1) Am 28. März stellte Verkehrskommissar Siim Kallas der Öffentlichkeit sein Werk vor, das die politischen Linien für die nächsten zehn Jahre und perspektivisch sogar bis 2050 vorgeben soll. Was steckt drin in dem neuen Weißbuch, vor allem aus umweltpolitischer Sicht?
Zwei Drittel weniger Emissionen bis 2050
Immerhin werden Kennzahlen und Ziele genannt, die Lerneffekte dokumentieren. Das Weißbuch zeichnet folgende Ausgangssituation: Der Verkehr ist für 25 Prozent der CO2-Emissionen und 73 Prozent des Ölverbrauchs in Europa verantwortlich. Das Verkehrssystem in der EU hängt immer noch für 96 Prozent seines Energiebedarfs von Ölerzeugnissen ab. Das hat mit Ressourcenschonung wenig zu tun. Die Ziele sind ehrgeizig. Bis 2050 sollen die verkehrsbedingten CO2-Emissionen um 60 Prozent gegenüber 1990 reduziert werden, was einem Minus von 70 Prozent gegenüber 2008 entspricht. Der Anteil der konventionellen Antriebe soll bis dahin in den Städten auf Null reduziert werden. Schon 2030 soll ihre Zahl halbiert sein – die Stadtlogistik soll dann im Wesentlichen CO2-frei betrieben werden. Flugzeuge und Schiffe sollen bis 2050 zu 40 Prozent CO2- arm betrieben werden. Und der Straßengüterverkehr über 300 Kilometer Entfernung soll bis dahin zur Hälfte auf Bahn und Schiff verlagert sein. Damit ist auch schon ein erfreuliches Schlüsselwort gefallen: die Verlagerung. Wer die absurden Verrenkungen der letzten fünf Jahre beobachtet hat, mit denen die Kommission in ihrer Zwischenbilanz 2006 eine „Ko-Modalität“ als Prinzip einführte und unter Beteuerungen des Gegenteils das Prinzip der Verlagerung auf die umweltfreundlichsten Verkehrsträger in die Rumpelkammer steckte, kann sich jetzt freuen. Offenbar ist die Erkenntnis gereift, dass ein bloßes Nebeneinander von Verkehrsträgern, die alle ein bisschen grüner werden, nicht ausreicht. Ein fünf Jahre währender Umweg ist damit hoffentlich beendet – vorausgesetzt, das EU-Parlament und der Ministerrat heißen das Weißbuch in dieser Form gut.
Weiterwachsen, nur viel effizienter
Die Minderung der Emissionen um 60 Prozent ist aber nur der eine Teil des verkehrspolitischen Ziels. Komplett lautet die Formulierung nämlich: „Verkehrswachstum gewährleisten und Mobilität unterstützen bei Erreichung des Emissionsminderungsziels von 60 %“, und da kommt man doch ins Grübeln. Nach wie vor lautet das Credo ohne Einschränkung: Verkehrswachstum. Zur Begründung heißt es, der Verkehr ermögliche wirtschaftliches Wachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen und sei das Rückgrat eines Systems, das „den wirtschaftlichen Fortschritt in Europa untermauert“ und „die Wettbewerbsfähigkeit erhöht“. Das Ganze soll dadurch klappen, dass man die Ressourcen einfach viel, viel effizienter nutzt, so ist die Idee. Ist das nicht vollkommen blauäugig? Außerdem fragt sich wohl auch jede Expertin für regionales Wirtschaften und jeder Globalisierungskritiker: Ist das eine zukunftsweisende Vision für die Europäische Union im 21. Jahrhundert?
Kein Abschied vom Infrastrukturausbau
Obwohl harte Zahlen die Basis bilden, bleiben die Vorschläge, welche Maßnahmen die Emissionen denn nun reduzieren sollen, unklar und widersprüchlich. Die tatsächliche Problemlösung wird um zwei Jahrzehnte aufgeschoben. „So begnügt sich die Kommission bis 2030 mit Trippelschritten von jährlich einem Prozent, um bis dahin lediglich 20 Prozent Treibhausgase gegenüber 2008 einzusparen“, stellten die enttäuschten Grünen im Europaparlament in einer ersten Stellungnahme fest. Und Greenpeace hat darauf aufmerksam gemacht, dass als Vergleichsjahr willkürlich das Jahr 2008 gewählt wurde, während sich die Kommission sonst fast immer auf 1990 bezieht. Nimmt man aber 1990 als Basisjahr, bringen die Weißbuch-Maßnahmen eine um acht Prozentpunkte geringere Minderung. Im Zentrum des Aktivitätenkatalogs stehen einerseits emissionsärmere Fahrzeuge plus Maßnahmen für Logistik- und Managementsysteme, um multimodale Transporte wie den Kombiverkehr sowie eine Verlagerung auf umweltfreundlichere Verkehrsarten zu erleichtern. Dazu kommt aber wie eh und je der Ausbau der Infrastruktur – ausdrücklich mit einer Erweiterung der Flughafenkapazitäten, und das schon mit einem legislativen Vorschlag im kommenden Jahr. Man glaubt, mit einer umfassenden Anbindung der Bahn an die Flughäfen könne man die Emissionsminderung dann schon hinbekommen. Entsprechende Planungen in Deutschland, etwa in Stuttgart oder München, zeigen dagegen: Das wird nichts. Wenigstens soll es bei den Transeuropäischen Netzen (TEN) im Landverkehr nun auch Projekte zur Einführung innovativer Technologien wie Lade- und Betankungsstationen für neue Fahrzeuge und neue Verkehrsmanagementsysteme geben. Diese Maßnahmen sollen den Gesamtenergieverbrauch und die Emissionen senken. Aber das ist wenig Neues. Erstaunlich ist vor allem, dass das Weißbuch nichts Konkretes zum notwendigen Umbau der Verkehrsnetze enthält, um diese an die Folgen der Klimaerwärmung anzupassen: Wie halten Straßenbeläge möglichen Hitzewellen stand, wie sind die Bahnen auf unberechenbare Wintereinbrüche vorzubereiten, wie hat sich das Katastrophenmanagement auf häufigere Überflutungen, Sandstürme und andere Naturereignisse einzustellen? Kämen solche Fragen erst einmal auf den Tisch, dann würde schnell deutlich werden, dass das Geld für Neubauprojekte knapper ist als viele immer noch glauben. Ein Hauptthema im Weißbuch ist die weitergehende Internalisierung der externen Kosten. 2012 soll es dazu Leitlinien für die „Auferlegung von Infrastrukturkosten auf Personenwagen“ geben. Auch für alle anderen Verkehrsträger sollen die Umweltkosten sukzessive einkalkuliert werden – die Einführung soll den Mitgliedstaaten aber noch bis 2020 freigestellt bleiben und ein Teil der Einnahmen soll weiter für Investitionen in die Infrastrukturen reserviert sein.
Städtischer Verkehr als Bewusstseinserweiterung
Neu im Weißbuch ist der Stadtverkehr als ein wichtiges Handlungsfeld. Hier steht die Förderung alternativer Antriebe und die Ausstattung mit den dafür notwendigen Infrastrukturen auf dem Programm. Außerdem soll die Bevölkerung deutlich mehr öffentliche Verkehrsmittel nutzen. Erreicht werden soll das mit Plänen und Finanzierungsinstrumenten zur urbanen Mobilität und durch eine „Schärfung des Bewusstseins für Alternativen zum herkömmlichen Individualverkehr“, wie es auf eurokratisch heißt. Innovativ ist das bestimmt nicht, aber man darf nicht ungerecht sein. Denn bis vor Kurzem hat die EU sich mit dem Verweis auf die rein nationalen Zuständigkeiten fast gar nicht um den Stadtverkehr gekümmert. Insgesamt bleibt Unbehagen zurück. Das Instrumentarium des neuen Weißbuchs weist erfreuliche Details auf, aber nicht mehr. Die alten Wachstums- und Beton-Rezepte konterkarieren die guten Ansätze. Das ist zu wenig für eine Verkehrspolitik, die den Übergang ins postfossile Zeitalter gestalten muss. Vor allem bei den emissionsmindernden Maßnahmen, die genau genommen eine ganze Generation zu spät greifen werden, muss die EU einen Zacken zulegen.
Anmerkung XX(1) Weißbuch: www.kurzlink.de/com-2011-144.pdf
Die Umweltberaterin Heike Aghte ist Geschäftsführerin beim Bündnis Leistungsabhängige Schwerverkehrsabgabe (LSVA) für Europa. Sie lebt in Berlin; umwelt aktuell, Mai 2011, S. 2.
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EU-lnvestitionspolitik Das globalisierungskritische Netzwerk Attac hat Bestrebungen der EU kritisiert, transnationalen Konzernen Klagen gegen Umwelt- und Sozialgesetze souveräner Staaten zu ermöglichen. Zurzeit wird in Brüssel fieber die EU-Investitionspolitik verhandelt. Das EU-Parlament hat dazu Anfang April über einen Gesetzentwurf abgestimmt. Das Gesetz macht es nach Ansicht von Attac mogIich, dass Investoren auf der Grundlage sogenannter Bilateraler Investitionsabkommen (BIT) vor internationalen Schiedsgerichten demokratisch legitimierte Gesetze mit Milliardenklagen aushebeln können, wenn sie ihre Gewinne bedroht sehen. BITs sind Abkommen zwischen zwei Staaten, die Regeln und Bedingungen für private Investitionen festlegen. Attac kritisiert, dass in den BITs Pflichten für Inyestoren weitgehend ausgeschlossen sind. Die Abkommen enthielten in der Regel auch keine Standards zum Schutz von Umwelt und natürlichen Ressourcen oder der Arbeitsrechte. Im Falle von Konzernklagen würden die Verfahren meist unter Ausschluss der Offentlichkeit stattfinden.
Attac sowie der BUND, die Naturfreunde und weitere Organisationen fordern, das intransparente Klagerecht von Investoren gegen Staaten gänzlich abzuschaffen und Sozial- und Umweltstandards gegenüber Konzerninteressen zu verteidigen. www.attac.de (Presse - 6.04.11) Aufruf (PDF): www.kurzlink.de/aufruf Hintergrund: www.kurzlink.de/hintergrund-bit . umwelt aktuell, Mai 2011, S. 24
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Unvorhersehbare Schengen-Kosten Das grosse Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit über das Schengen-Abkommen hat das Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) am Freitag, 20. Mai 2011, nur halb befriedigt. Departementsvorsteherin Simonetta Sommaruga informierte zusammen mit Exponenten des Bundesamtes für Justiz, des Integrationsbüros, des Bundesamts für Migration und des Bundesamts für Polizei die Medien über den heutigen Stand und insbesondere die Kosten von Schengen/Dublin. Am Mittwoch, 18. Mai 2011, waren bereits die Parlamentarier informiert worden.
Die Informationsveranstaltung sei schon länger geplant gewesen, sagte Sommaruga vor den Medien. Durch die Veröffentlichung der unterschätzten Kosten für Schengen/Dublin erhalte sie nun natürlich mehr Brisanz. Denn die nun am Freitag offiziell veröffentlichten Zahlen eines Berichts des EJPD an die Finanzdelegation enthüllen weitaus höhere Kosten für das Schengen-Abkommen, als dies dem Stimmbürger in den Abstimmungsunterlagen und auch in der Botschaft vermittelt worden ist (NZZ 7. 5. 2011).
Der Bericht war durch die Medien vor zwei Wochen bereits bekanntgemacht worden. Seit 2006 verursachte die Umsetzung des Schengen-Abkommens Kosten in der Höhe von 123 Millionen, statt die erhofften Einsparungen zu bewirken. Das sind 43 Millionen Franken anstelle der prognostizierten 7,4 Millionen Franken pro Jahr. Das EJPD erwartet zudem bis 2014 einen Mehraufwand von 141 Millionen Franken. Die Bundesrätin nahm jedoch ihren Vorgänger und Alt-Bundesrat Christoph Blocher in Schutz, indem sie sagte, dass sich Kosten entwickelt hätten, die 2005 nicht voraussehbar gewesen seinen. So habe man damals beispielsweise nicht wissen können, dass sich Kosten für die Grenzschutzagentur Frontex und den Solidaritätsfonds der Aussengrenzen ergeben würden, da es diese beiden Institutionen damals noch nicht gegeben habe. Auch die Problematik bei der Einführung des Schengen-Informationssystems II sei nicht voraussehbar gewesen. Es habe eine sehr dynamische Entwicklung von Schengen seit 2005 gegeben. Auf die Frage, weshalb damals die Betriebskosten für Schengen nicht mit eingerechnet wurden, wollte die Justizministerin nicht direkt eingehen. Die Kosten seien «konservativ» berechnet worden, und man habe sie wohl auch «unterschätzt». Eine vorsätzliche Fehlberechnung könne jedoch nicht festgestellt werden.
Sommaruga gab auch zu bedenken, dass die Opportunitätskosten und der Nutzen für die Schweiz sich gegenüber den effektiven Kosten nicht beziffern liessen. Schengen habe aber viel zum freien Reiseverkehr und zur Verbesserung der Polizeiarbeit beigetragen. Es sei auch nicht klar, wie viel die Einführung eines eigenen nationalen Sicherheitssystems anstelle desjenigen von Schengen für die Schweiz gekostet hätte. Das EJPD werde jedenfalls in Zukunft die Kosten transparent aufführen. NZZ, 21. Mai 2011, S. 13
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Dänemark führt Grenzkontrollen wieder ein ZehnJahrenachihrer Abschaffung will Dänemark wieder permanente Grenzkontrollen einführen. Schon in ein paar Wochen soll die Wachsamkeit an den Grenzenzu Deutschland und Schweden sowie in den Häfen erhöht werden. Dies verkündete der dänische Finanzminister Hjort Frederiksen am Mittwoch, den 11. Mai 2011, nachdem die Iiberal-konservative Koalition mit der rechtspopuIistischen dänischen VoIkspartei und einem Christlichdemokraten ein entsprechendes Abkommen eingegangen war. Die Initiantin der Massnahme ist die Volkspartei, die der steigenden Kriminalität. und dem Menschenschmuggel einen Riegel schieben will. Parteichefin Kjaersgaard nannte die Wiedereinführung der Grenzkontrollen einen Sieg für ihre Partei, obwohl auch die Sozial- demokraten und die Sozialisten dafür sind. Die Rechtspopulistenmachten verschärfte Grenzkontrollen zur Voraussetzung für ihre Zustimmung zur derzeit hart debattierten Reform der Vorruhestandsregelung, die in das geplante „Reformpaket“ zur Sanierung der Staatsfinanzen eingeht. Dass Danemarks Regierungschef vielleicht noch vor den Sommerferien, aber spatestens im November Neuwahlen ausruft, spielt dabei eine wichtige .Rolle. Laut einer Sprecherin der EU-Kommission verstösst Dänemarks Vorhaben gegen die Schengen- Zusammenarbeit. Hjort Fredriksen verneint dies mit dem Hinweis darauf, dass nicht Polizisten, sondem Zöllner an den Grenzen stehen sollen. NZZ, 12. Mai 2011, S. 1
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Externe Gutachten über die institutionelle Weiterentwicklung des Bilateralismus Der Bundesrat bekräftigt in seinem Communiqué im Anschluss an seine Klausur vom Mittwoch, den 4. Mai 2011, an der EU-Fragen diskutiert wurden, seinen Willen, mit einem «gesamtheitlichen und koordinierten Ansatz» die bilateralen Beziehungen zur EU auf eine neue Grundlage zu stellen. Zu einem solchen Vorgehen – parallele Verhandlungen über eine breite Palette von Binnenmarkt-Dossiers, Steuerpolitik und institutionelle Fragen – hatte sich die Regierung bereits im Januar bekannt.
Beschlossen wurde, zwei externe Gutachten zu den umstrittenen Mechanismen bei der Übernahme von EU-Recht in Auftrag zu geben. Es handelt sich namentlich um die Frage der Gerichtsbarkeit (Auslegung des im Rahmen der bilateralen Verträge anwendbaren EU-Rechts) sowie der Überwachung der Anwendung von EU-Recht durch die Schweiz.
Bei diesen Themen handelt es sich um Knacknüsse, welche die Schweiz kaum wird umschiffen können, wenn sie für die Rechtsübernahme eine nachhaltige Lösung finden will. Die EU beharrt seit längerem darauf, dass das Recht des EU-Binnenmarkts auch für Drittstaaten gelten soll, die an diesem 500-Millionen-Markt partizipieren.
Die Gutachten – Überraschungen vorbehalten – dürften kaum Neues ergeben. Die Schweiz und die EU haben letztes Jahr je einzeln und dann zusammen über institutionelle Modelle oder gar einen Rahmenvertrag geforscht. Mit den neuen Gutachten signalisiert der Bundesrat aber Diskussionsbereitschaft. Zur den Forderungen der EU zur Überwachung und Gerichtsbarkeit hat sich die offizielle Schweiz bisher nie konkret geäussert. Kein Thema waren an der Klausursitzung offenbar die zurzeit viel diskutierten negativen Folgen der Personenfreizügigkeit. NZZ, 6. Mai 2011, S. 9
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Bericht über die Überwachung der flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit Branchen wie Bau, Gastgewerbe, Putzgewerbe, Sicherheitsgewerbe und zudem die Personalverleiher werden staatlicher seits bezüglich der Einhaltung von arbeitsrechtlichen Vorgaben kontrolliert. Im vergangenen Jahr wurden total gut 36 000 Betriebe und rund 140 000 Arbeitsverhältnisse überprüft, wie dem am Dienstag, den 3. Mai 2011, vom Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) publizierten Bericht zu entnehmen ist. Dies entspricht gemessen an den Arbeitsverhältnissen im Vergleich zum Vorjahr einer Zunahme von etwa 40 Prozent. Überprüft wurden Arbeitnehmer bei Schweizer Betrieben, selbständige Dienstleister sowie von ausländischen Betrieben in die Schweiz entsandte Arbeitnehmer.
Die Kontrollen haben viele Verstösse zutage gefördert. In GAV-Branchen stellten die Kontrolleure in rund 40 Prozent der Fälle Lohnverstösse fest (Vorjahr 25 Prozent), in Branchen ohne allgemeinverbindlichen GAV lag die Verstossquote bei 8 Prozent (Vorjahr 6 Prozent). Die grosse Differenz erklären die Seco-Experten mit der Tatsache, dass in GAV-Branchen mit verbindlichen Mindestlöhnen Verstösse viel einfacher festzustellen seien.
Die hohe Verstossquote in den GAV-Branchen ist laut Serge Gaillard, Direktor Arbeit im Seco, insofern zu relativieren, als nur in etwa einem Drittel der Fälle Sanktionen ausgesprochen worden seien, was darauf schliessen lasse, dass es sich nur in diesen Fällen um «ernsthafte» Verstösse gehandelt habe.
Bussen sind aber vor allem bei ausländischen Entsendebetrieben nur schwer durchsetzbar, weshalb laut dem Bericht in gewissen Fällen auf Sanktionen verzichtet wurde. Die Quoten der Zahlungsverweigerung der Entsendebetriebe bei Bussen oder Konventionalstrafen lagen je nach Untergruppe bei unter 50 Prozent bis 90 Prozent.
Die Behörden registrierten letztes Jahr insgesamt 147 000 meldepflichtige Kurzaufenthalter. Davon entfielen 50 Prozent auf Arbeitnehmer in Schweizer Betrieben, 40 Prozent auf entsandte Arbeitnehmer ausländischer Betriebe und 10 Prozent auf Selbständige. Die Zahl der meldepflichtigen Selbständigen hat sich in den letzten fünf Jahren verdoppelt. Die Kontrolleure überprüften letztes Jahr gut 3500 Selbständige, in 23 Prozent der Fälle vermuteten sie «Scheinselbständige» – faktisch angestellte Personen, die nur zwecks Unterlaufen hiesiger Bestimmungen als Selbständige auftraten.
FDP, SP und Gewerkschaften forderten am Dienstag, den 3. Mai 2011, nicht zum ersten Mal wirksame Sanktionen unter anderem gegen Scheinselbständige, namentlich die rasche Wegweisung vom Arbeitsplatz. Seco-Vertreter Serge Gaillard stellte Lösungsvorschläge zum Problem der Scheinselbständigen bis kommenden Sommer in Aussicht. NZZ, 4. Mai 2011, S. 13
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Nanopartikel in Lebensmitteln weiterhin ohne Kennzeichnung Die Verhandlungen für eine Neufassung der europäischen Verordnung für neuartige Lebensmittel (Novel Food) sind Ende März 2011 gescheitert. Deshalb gibt es his auf Weiteres keine EU-einheitlichen Regeln für die Verwendung yon Nanopartikeln in Lebensmitteln und keine Kennzeichnungspflicht. EU - Parlament, Ministerrat und Kommission konnten sich nach rund drei Jahren Diskussion nichtauf eine Lösung einigen, deshalb gilt die aus dem Jahr 1997 stammende Verordnung weiter. "Das heisst, dass die Anwendung von riskanten Technologien in Lebensmitteln noch auf Jahre unzureichend reguliert bleiben wird", kritisierte der BUND. Verbraucherlnnen konnen sich demnach nicht daraufverlassen, dass sie durch eine entsprechende Aufschrift informiert werden, ob ihr Produkt Nanopartikel enthält oder nicht. Zudem konnen neue Produkte auf den Markt gebracht werden, ohne ein Zulassungsverfahren zu durchlaufen.
Nanomaterialien werden in Lebensmitteln bereits als Rieselhilfen etwa in Salz oder Brühe oder zur Verkapselung yon Konservierungsmitteln, Farb- und Nahrstoffen verwendet. Mogliche Risiken bei Aufnahme über den Magen-Darm-Trakt sind bisher kaum erforscht.
BUND, Nanoexperte Jurek Vengels, Berlin, Tel. +49 (0)30/27586-422, E-Mail: jurek.vengels@bund.net, www.bund.net/nano , umwelt aktuell, Mai 2011, S. 11
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Klonfleisch nicht deklariert In EU-Supermärkten dürfen Fleisch und Milch von Nachfahren geklonterTiere auch künftig ohne Kennzeichnung verkauft werden. Die EU-Verhandlungen über eine Kennzeichnungsregelung sind vorerst gescheitert. Das EU-Parlament konnte sich Ende März 2011 nicht mit seiner Forderung nach einem Verbot und strikten Vorgaben für die Vermarktungvon Klonfleisch durchsetzen. Die Mitgliedstaaten und die EU-Kommission waren dagegen. Zwar werden in der EU geklonte Tiere derzeit nicht zu Lebensmitteln verarbeitet, aber Produkte von Klontiernachfahren könnten sich im Handel befinden.
VerbraucherInnen können nicht erkennen, ob die Wurst oder der Käse, die sie kaufen wollen, von einem Klontier stammt.
Das Parlament und der Ministerrat machten sich gegenseitig für das Scheitern der Gesprache verantwortlich. Zahlreiche Europaabgeordnete kritisierten, dass keine Einigung zustande kam. „Offenbar wollen die Mitgliedstaaten, dass die Verbraucher Klonfleisch essen, ohne dies zu erfahren“: sagte der gesundheitspolitische Sprecher der EVP-Fraktion, Peter Liese (CDU). Das Bundeswirtschaftsministeriumn habe einen Kompromiss blockiert.
Die SPD-Gesundheitsexpertin Dagmar Roth- Behrendt nannte Klonen "überflüssig und ethisch nicht vertretbar". Martin Hausling, der agrarpolitische Sprecher der Fraktion Grüne/EFA, warf den Mitgliedstaaten vor, nicht die Interessen der eigenen Bürgerinnen und Bürger zu vertreten, die sich gegen das Klonen von Tieren aussprachen und Lebensmittel von Klontieren und deren Nachkommen ablehnten.
Die Klonfleischkennzeichnung war Teil einer umfassenden Richtlinie für neuartige Lebensmittel, zu denen auch Nahrungsmittel zählen; die seit Mitte der 90er- Jahre neu auf den Markt gekommen sind. Nun gilt die alte Novel-Food-Verordnungvon 1997 weiter. Wann die Kommission einen neuen Gesetzentwurf vorlegt, ist unklar. EU-Kommission zu neuartigen Lebensmitteln: www.kurzlink.de/novelfood-eu-com, umwelt aktuell Mai 2011, S. 18
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EU-Industrie greift nach Indiens Saatgut In den letzten 15 Jahren haben nach Angaben des indischen Agrarwissenschaftlers Devinder Sharma rund 215.000 Bauern und Bäuerinnen in Indien Selbstmord begangen, vor allem in Regionen, in denen die „Grüne Revolution“, also der Umstieg auf kommerzielles Saatgut, durchgesetzt wurde. Die BäuerInnen waren außerstande, den Verlust durch Ernteausfälle beim Anbau sogenannter Hochertragssorten zu tragen. Eine vor allem auf Weltmarktöffnung und schnelles Wirtschaftswachstum orientierte Landwirtschaftspolitik hat dazu geführt, dass viele große und mittelständische Landwirtschaftsbetriebe Indiens in extreme Abhängigkeit von Hybridsaatgut und Weltmarktpreisen für Agrarprodukte getrieben wurden. Dabei erweisen sich die Hochertragssorten nicht nur als anfällig für Krankheiten, sie reagieren auch sensibler auf Klimaschwankungen. Außerdem verdrängen sie lokal angepasste Sorten und verringern so die landwirtschaftliche Vielfalt.
KritikerInnen befürchten nun, dass sich die Lebenssituation der ohnehin sehr armen ländlichen Bevölkerung in vielen indischen Bundesstaaten durch das geplante Freihandelsabkommen zwischen der EU und Indien weiter verschlechtert. Dieses bisher weitreichendste Freihandelsabkommen (Free Trade Agreement, FTA) der EU stellt einen Präzedenzfall für weitere FTAs dar.
Die Verhandlungen werden geheim geführt. In den bekannt gewordenen Entwürfen des FTA zu geistigen Eigentumsrechten fordert die EU eine Angleichung der indischen Gesetze an das patentähnliche Sortenschutzrecht der International Convention for the Protection of New Varieties of Plants (UPOV) von 1991. Die UPOV verbietet den Tausch von käuflich erworbenem Saatgut unter BäuerInnen und erlaubt die kostenlose Wiederaussaat nur in wenigen Ausnahmefällen. Stimmt die indische Regierung den Forderungen der EU zu, werden wahrscheinlich die Preise für kommerzielles Saatgut, Pestizide und Düngemittel steigen, weil es weniger Alternativen dazu gibt. Hinter den Verhandlungspositionen der EU stehen die Interessen der europäischen Life-Science-Industrie. Die EU-Konzerne wollen sich den Zugriff auf indisches Saatgut sichern und gleichzeitig seine Nutzung durch indische BäuerInnen beschränken.
Ein Beitritt zur UPOV würde das indische Gesetz zum Schutz der Pflanzenvielfalt und der Rechte der Bauern von 2001 aushebeln. Danach haben Züchter zwar eine weitgehende Kontrolle über die kommerzielle Vermarktung des von ihnen hergestellten Saatguts. BäuerInnen dürfen aus der Ernte geschützter Sorten jedoch weiterhin Saatgut gewinnen und dieses verkaufen und tauschen, solange sie dabei nicht den amtlich registrierten Markennamen verwenden. Außerdem brauchen kommerzielle Züchter, die neue Sorten auf der Basis traditioneller Nutzpflanzen züchten wollen, die Erlaubnis der Bauern und müssen diese an den Einnahmen beteiligen.
Das Saatgut der traditionellen Nutzpflanzen oder Landsorten bildet Indiens Ernährungsgrundlage: Nach Angaben der Nichtregierungsorganisation Gene Campaign haben die indischen BäuerInnen zuletzt 85 Prozent des Saatgut-Jahresbedarfs selbst aufgebracht. Würde ihnen das Recht am Saatgut genommen, hätte das große Einkommensausfälle zur Folge. Besonders wenn der Lebensunterhalt von kleinen Höfen gefährdet ist, trifft das als erstes die Frauen, auf deren Schultern zumeist die Verantwortung für die Ernährung liegt. Kleinbauernverbände und
Nichtregierungsorganisationen in Indien und Europa fordern deshalb die Offenlegung der bisher nur unter der Hand weitergereichten FTA-Entwürfe. Sie wollen einen Richtungswechsel in der Agrarpolitik und eine klare Absage an eine zweite „Grüne Revolution“. Ihr Alternativmodell ist das Konzept der Ernährungssouveränität. Das Halla Bol Collective betreibt einen Informationsdienst für Indien-AktivistInnen. Kontakt: E-Mail: hallabolnewsletter@rediffmail.com, www.hallabol.blogsport.de, umwelt aktuell, Mai 2011, S. 12
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Landhunger eskaliert Der globale Landhunger grosser Agrarkonzerne, Staaten und Fondshändler hat für Mensch und Natur ausschliesslich negative Auswirkungen. Zu diesem Ergebnis kamen die Teilnehmerlnnen der Konferenz "Global Land Grabbing" im April 2011 in der britischen Grafschaft Sussex. Anhand ihrer aktuellen Forschungen legten die WissenschaftlerInnen dar, dass die Landnahmen in aller Regel mit Menschenrechtsverletzungen einhergehen. Die Investitionen in grosse Landflächen zum Anbau von Grundnahrungsmitteln, Energiepflanzen oder als Geldanlage würden "dort getätigt, wo viel gehungert wird", sagte Roman Herre, Agrarreferent der Menschenrechtsorganisation FIAN. Mit Armutsbekämpfung oder Ernahrungssicherung habe dies nichts zu tun.
Seit 2009 wurden laut neuer Zahlen der WissenschaftlerInnen 80 Millionen Hektar Ackerland transferiert, fast die Hälfte davon für die Agrartreibstoffproduktion. Westeuropäische Firmen wickelten mindestens 150 "Landdeals" ab. Immer neue Fälle des kommerziellen Landraubs würden bekannt, so Uwe Hoering, Experte fur internationale Agrarpolitik, in einer Kurzanalyse zum derzeitigen Stand des Land Grabbing. Die meisten Geschäfte mit der Ressource Land werden demnach in Afrika gemacht. Die Verhandlungen über Landpacht und Konzessionen fanden abseits der Öffentlichkeit statt. Verträge, die Bedingungen festlegen, würden geheimgehalten. www.kurzlink.de/iand-grab-konferenz Analyse: www.kurzlink.de/update-hoering, umwelt aktuell, Mai 2011, S. 11
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«Dynamische Übernahme von EU-Recht» Michael Reiterer, EU-Botschafter, stellt in einem Interview mit der NZZ am Sonntag klar, dass die Schweiz nicht nur bei neuen, sondern auch bei den bestehenden Abkommen EU-Recht laufend übernehmen muss, in EU-Deutsch: „Die Schweiz hat sämtliche Gestaltungsmöglichkeiten. Wir haben nie eine automatische Übernahme von EU-Recht gefordert, sondern eine dynamische. Das ist nicht nur ein semantischer Unterschied: Die Schweiz wird als Nichtmitglied der EU immer die Möglichkeit haben, Nein zu einer Anpassung zu sagen – mit noch zu definierenden Konsequenzen.“ „Es ist in beiderseitigem Interesse, die Anwendung der bestehenden Verträge zu verbessern, Rechtssicherheit zu schaffen“. Auf die Frage der NZZ: „Sie sprechen von den bestehenden Verträgen. Geht es bei einem Abkommen über die institutionellen Fragen nicht vor allem um die künftigen Abkommen?“ Reiterer: „Die Verträge, die wir noch nicht abgeschlossen haben, verschaffen uns ja kein Problem in der Anwendung.“ NZZ: „Die EU will also in erster Linie die bestehenden Verträge nachbessern?“ Reiterer„Natürlich soll eine Vereinbarung zu den institutionellen Fragen auch für künftige Abkommen gelten. Aber wenn wir einen Modus finden, mit dem wir die Rechtsentwicklung und Kontrolle besser umsetzen können, macht es Sinn, diesen auch auf die bestehenden Verträge anzuwenden.“ NZZ am Sonntag, 8. Mai 2011, S. 15. Im „Le Matin Dimanche“ vom 19. 12. 2010 versteigt sich Reiterer zum folgenden Vergleich: Auf die Frage „La Suisse devrait donc reprendre automatiquement le droit européen et même sa jurisprudence dans les secteurs concernés par les bilatérales“? Antwortete er „Pouvez-vous imaginer qu’un canton décide de n’appliquer une nouvelle loi fédérale que cinque ou six ans après son entrée en vigeur?“ Offenbar betrachtet Reiterer die Schweiz nicht als souveränenen Staat sondern als Teil eines euopäischen Bundesstaates.
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