Noch dieses Jahr will Estland dem Schengen-Abkommen beitreten. Dann wird es für die Menschen, die enge Beziehungen über die Grenzen hinweg pflegen, nochmals schwieriger.
Die Lage ist ohne Schengen auch schon nicht einfach. Vor Grenzübergängen stauen sich endlose Schlangen von Lastwagen. Teilweise mussten Lastwagen schon eine Woche stehen. Auch der Fussgängerverkehr in Grenzstätten ist nicht einfach. Nur mit Pass ist der Übergang möglich – die Pässe kosten und müssen regelmässig erneuert werden, da bei jedem Übergang ein Stempfel eingedrückt wird. Dies etwa um den Friedhof auf der anderen Seite der Grenze zu besuchen. Das Leben ist für die Menschen diesseits und jenseits des Flusses beschwerlicher geworden; sagen die Grenzgänger, doch man hat einen Modus vivendi gefunden. Doch jetzt wird dieser erneut in Frage gestellt, und wie es dann hier weitergehen soll, weiss noch niemand. Schon in diesem Herbst will Estland dem Schengen-Abkommen beitreten. Das heisst freies Reisen innerhalb des Schengen-Raums für die Esten. Das heisst aber auch: Abschottung nach aussen. Für die Regierung in Tallinn ist der Beitritt die logische Folge der EU-Mitgliedschaft. Er soll die Freizügigkeit erleichtern. Doch die Freizügigkeit der Menschen in der Grenzregion wird weiter erschwert.
Heute reicht es, auf das Grab der Grossmutter auf der anderen Seite des Flusses zu verweisen, um ein Visum zu erhalten. Wenn künftig ein estnisches Visum ein Schengen-Visum sein wird, das nicht nur für den Friedhofs- oder Familienbesuch gilt, sondern für Reisen bis nach Portugal oder Sizilien, so wird’s wohl schwieriger. Das Dilemma ist klar: Entweder gibt es in Narva eine Schleuse, durch die russische Bürger ungehindert und fast ungeprüft in die EU strömen können. Oder man erschwert der Grenzbevölkerung durch Schengen-Bürokratie das Zusammenleben. Der Bund, 12. April 2007, S. 5.