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Kurzinfos März 2024
Bundesräte auf internationalem Parkett: Bedenkenswertes aus EWR-Zeiten Wenn Bundesräte direkt verhandeln, kommt es nicht immer gut. 1991 reisten die beiden Bundesräte René Felber und Jean-Pascal Delamuraz zu den finalen Gesprächen über den EWR-Vertrag nach Luxemburg. Beide Bundesräte sprachen kaum Englisch, beide wollten sich vom damaligen Schweizer Chefunterhändler Franz Blankart nichts sagen lassen, weil sie ihn nicht leiden konnten.
Blankart beschrieb das Treffen später einmal so: «Zunächst langer Apéritif, währenddessen sich die EG-Kommission und Island in einer Ecke über das Fischproblem unbemerkt einigten, so dass nur noch der Problemfall Schweiz übrig blieb. Dann zu Tisch, der erste Gang, ein Fisch mit bestem französischem Weisswein, dann ein Filet de bœuf, wie es nur belgische Köche zustande bringen, serviert mit einem exzellenten Bordeaux, dann Verteilung eines 17-seitigen Dokuments in englischer Sprache.»
Als die Europäer Punkt für Punkt auf wichtige Änderungen des Dokuments drängten, kam von Felber und Delamuraz keine grosse Gegenwehr mehr. Stattdessen traten sie um drei Uhr morgens übermüdet vor die Medien und erklärten den EWR zum Zwischenschritt hin zu einem EU-Beitritt – zum Entsetzen Blankarts und vieler anderer EWR-Befürworter zu Hause. Später sagte Blankart: «Man muss wirklich von allen guten Geistern verlassen sein, solch einen politischen Fehler zu begehen. Von da an wusste ich, dass der EWR verloren war.» NZZ, 23. März 2024.
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Studie «Fehlanreize beim Energieverbrauch» Gemäss Verfassung muss sich der Bund für einen sparsamen Umgang mit Energie einsetzen. Viele Gesetzesbestimmungen kurbeln den Energieverbrauch jedoch an, statt ihn zu senken. Eine neue Studie im Auftrag der Schweizerischen Energie-Stiftung SES hat 112 solcher «Fehlanreize» identifiziert und sieben davon vertieft untersucht.
Die Studie «Fehlanreize beim Energieverbrauch – Analyse der Bundesgesetzgebung» des Beratungsbüros EBP im Auftrag der SES zeigt eindrücklich auf, dass bei den energetischen Fehlanreizen in der Bundesgesetzgebung ein grosser Handlungsbedarf und auch viele Handlungsmöglichkeiten mit grossem Einsparpotenzial und positiver Gesamtwirkung bestehen.
Bereits das Einsparpotenzial bei sieben vertieft untersuchten Fehlanreizen ist beträchtlich: es beträgt 9 bis 10 TWh pro Jahr oder knapp 5 % des Schweizer Gesamtenergieverbrauchs. Über alle 112 Fehlanreize liegt das Einsparpotenzial noch weit höher: 40% davon haben eine hohe bis sehr hohe Auswirkung auf den Energieverbrauch.
Thomas Wälchli, zuständiger Fachbereichsleiter bei der SES sieht viele Vorteile für den Bund, wenn dieser solche Fehlanreize korrigiert: «Wenn der Bund diese Fehlanreize, die zur Energieverschwendung führen, konsequent abbaut, kann die Schweiz einfach viel Energie einsparen. Dazu kommt: Der Bund spart Geld damit, erhält höhere Steuereinnahmen oder wir alle profitieren von Zusatznutzen wie beispielsweise einer besseren Luftqualität.»
Die SES empfiehlt, dass Bundesrat, Parlament und Bundesverwaltung jetzt die Bundesgesetzgebung systematisch auf die Versorgungssicherheit, die Klimaschutzziele und das Energiesparen ausrichten und die gewichtigen Fehlanreize umgehend korrigieren. Mit der vorliegenden Studie hat die SES die Grundlagen umfassend zusammengetragen und die nötige Vorarbeit geleistet. Die Erarbeitung der Studie wurde von der Stiftung Mercator Schweiz und der Hamasil Stiftung finanziell unterstützt. 5. März 2024, SES-Studie «Fehlanreize beim Energieverbrauch» https://energiestiftung.ch/files/energiestiftung/pdf/aktuell/20240220_SES_Studie_Fehlanreize.pdf
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Viele Stromfirmen befürchten, dass ein EU-Abkommen Nachteile bringen würde Bauchschmerzen bereitet den kleinen Netzbetreibern insbesondere die von der EU verlangte vollständige Öffnung des Schweizer Strommarktes.
Zuerst wird im edlen Speisesaal eines Berner Hotels ein üppiges Mittagsmahl samt Rotwein serviert. Dann reden mehrere Topmanager aus der Strombranche den versammelten Parlamentarierinnen und Parlamentariern ins Gewissen. Die Chefs von Axpo, BKW, EWZ und zwei weiteren Stromunternehmen erklären, wie wichtig es für ihre Unternehmen und das ganze Land sei, endlich ein Stromabkommen mit der EU abzuschliessen.
Organisatorin des Anfang März durchgeführten Anlasses ist Swissgrid, die Betreiberin des Stromübertragungsnetzes, das die Schweiz mit dem Ausland verbindet. Kaum sind die Teller abgeräumt, verschicken die Unternehmen ein gemeinsames Communiqué: «Strombranche ist sich einig: Ein Stromabkommen mit der Europäischen Union bleibt oberste Priorität», lautet der Titel.
Kritik an Swissgrid
Bei einer Reihe von Firmen in der Elektrizitätsindustrie kommt das ganz schlecht an, wie mehrere Quellen gegenüber der «NZZ am Sonntag» bestätigen. Der Grund: Die Swissgrid könne nicht für die Branche sprechen. Denn diese bestehe längst nicht nur aus der Handvoll Unternehmen, die am Anlass dabei waren.
Der Swissgrid-Sprecher Kaspar Haffner weiss von der Kritik. Der Titel der Medienmitteilung sei tatsächlich nicht angemessen und sei in der Online-Version korrigiert worden, sagt er.
Die Episode belegt: Ein Abkommen mit der EU steht längst nicht bei jedem Stromunternehmen zuoberst auf der Prioritätenliste. In der Schweiz liefern 630 Netzbetreiber Strom – von Gemeindewerken bis hin zu kantonalen Versorgern. 70 Prozent davon besitzen keine eigenen Kraftwerke. Viele befürchten von einem EU-Abkommen Nachteile für ihr Geschäftsmodell.
Kleine Stromfirmen sind skeptisch
Das zeigt sich am Dachverband Schweizer Verteilnetzbetreiber (DSV). Dieser hat über 400 Mitglieder, insbesondere lokale und regionale Versorger in der Deutschschweiz und in Liechtenstein. «Ein geregeltes Verhältnis zur EU ist auch in unserem Interesse», sagt der Verbandspräsident Beat Gassmann zwar. Doch er betont: «Das bedeutet nicht, dass wir das Stromabkommen in der angedachten Form unterstützen.»
Ein Punkt, der den kleinen Netzbetreibern Bauchschmerzen bereitet, ist die von der EU verlangte vollständige Marktöffnung. Heute dürfen in der Schweiz erst einige zehntausend Grosskunden ihren Lieferanten frei wählen. Der Rest der über fünf Millionen Endverbraucher hingegen muss den Strom bei seinem regionalen Lieferanten beziehen.
Der DSV spricht sich grundsätzlich für eine vollständige Liberalisierung aus. Der Verband lehnt es aber ab, dass Kunden, die in den freien Markt wechseln und einen neuen Lieferanten wählen, später wieder zu ihrem ursprünglichen Versorger in die geschützte Grundversorgung zurückkehren können.
Beruhigungspille für EU-Gegner
Eine solche Option wird in der Politik, der Verwaltung und der Strombranche diskutiert. Mit ihr soll den Gegnern des EU-Vertrags und der Marktöffnung der Wind aus den Segeln genommen werden, wenn es wie erwartet zu einer Abstimmung kommt. Denn so wäre sichergestellt: Kleinkunden, die auf dem freien Strommarkt schlechte Erfahrungen machen, können diesem wieder den Rücken kehren.
Doch laut dem DSV-Präsidenten Gassmann wird mit der Rückkehrmöglichkeit eine Ungerechtigkeit geschaffen. «Damit die Netzbetreiber jederzeit Kunden beliefern können, die in die Grundversorgung zurückwechseln, müssen sie Energie für diese einkaufen», sagt er. Das Risiko der Beschaffung dieses zusätzlichen Stroms – etwa, zu welchem Preis dieser eingekauft werden kann – müssen aber die Kunden im freien Markt tragen, wie Gassmann erklärt.
Der DSV zeigt sich noch bei weiteren Punkten skeptisch. Gemäss EU-Recht könnte neu in einem Netzgebiet ein Unternehmen als Grundversorger definiert werden. «Damit würde aber der Markt beeinflusst, denn dieser Lieferant hätte gegenüber allen anderen einen Vorteil», kritisiert Gassmann. Darum gelte beim DSV: «Wenn das Resultat aus den Verhandlungen mit der EU vorliegt, werden wir dieses beurteilen und eine abschliessende Meinung fassen.»
Verhandlungsresultat abwarten
Auch Ronny Kaufmann, Chef des Stadtwerke-Netzwerks Swisspower, will sich nicht vor Abschluss der Verhandlungen festlegen. Er rät den Energieversorgern zwar, sich bereits auf eine mögliche vollständige Marktöffnung vorzubereiten. Die Frage, ob die Schweiz diesen Schritt aber wirklich gehen solle, «stellt sich für mich erst dann, wenn ein gutes Stromabkommen mit der EU vorliegt», sagt Kaufmann.
Wenn jemand für die Branche als Ganzes sprechen kann, dann ist es der Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen (VSE). Dem Dachverband sind auch DSV und Swisspower angeschlossen. «Wir sind überzeugt: Für die Marktöffnung lässt sich ein Modell finden, das für alle tragbar und umsetzbar ist», sagt die Sprecherin Claudia Egli. Ob es eine Rückkehrmöglichkeit in die Grundversorgung geben soll, sei eine politische Frage. Wenn sie eingeführt werde, sei eines klar: Es müsse für alle Stromversorger Planungssicherheit geschaffen werden. NZZ am Sonntag, 24. März 2024, S.27
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Verhandlungspoker um Stromabkommen: Das sind die grössten Stolpersteine Bundesrat Albert Rösti will sich bei der Bereitstellung der Stromreserve von Brüssel nicht dreinreden lassen. Das Stromabkommen mit der EU hält aber noch andere Hürden bereit. Seit Februar 2023 verfügt die Schweiz über eine Art Lebensversicherung beim Strom. Droht eine Mangellage, kann sie die Turbinen von drei Notkraftwerken in Gang setzen, die mit Öl und Gas zusätzlichen Strom produzieren. Der Bund lässt sich die Vorsorge für den Krisenfall einiges kosten: Allein die Bereitstellung des Kraftwerks in Birr schlägt mit fast einer halben Milliarde Franken zu Buche.
Und das, obwohl die Anlage bisher noch gar nie Strom produzieren musste. Doch weil die Gefahr eines Stromengpasses auch in den nächsten Jahren virulent bleibt, hält der Bundesrat an der Notreserve fest. Bereits 2026 sollen neue Gaskraftwerke ans Netz gehen, welche die bestehenden Anlagen ersetzen. Kostenpunkt: bis zu eine Milliarde Franken.
Mit den Verhandlungen mit der EU über ein Stromabkommen gelangen die im letzten Winter aus dem Boden gestampften Reservekraftwerke jetzt aber plötzlich auf den Prüfstand. Der Grund: Die Kraftwerke, für welche die Betreiber auch Geld erhalten, wenn sie nicht laufen, könnten gegen das Beihilferecht der EU verstossen. Brüssel will damit verhindern, dass der Markt verzerrt wird, indem Strom von den staatlich finanzierten Notkraftwerken auf den Markt gelangt.
Stromreserve als rote Linie
Redet die EU der Schweiz bei der Bereitstellung der Stromreserve drein, überschreitet sie gemäss Bundesrat Albert Rösti eine rote Linie: «Es kann nicht angehen, dass wir Reservekraftwerke bauen, die dann im Notfall nicht betrieben werden können», erklärte er am Montag gegenüber der NZZ. Von seinen Leuten im Bundesamt für Energie (BfE) erwarte er in diesem Punkt eine «harte Haltung» in den Verhandlungen. Unumstritten für die EU ist laut Rösti dagegen die Wasserkraftreserve, welche die Stromfirmen jeweils im Winter für Notlagen zurückbehalten müssen.
Beim Bundesamt für Energie selbst zeigt man sich optimistisch, in der Frage über die Reservekraftwerke eine Einigung zu erzielen. «Da diese Kraftwerke nicht laufend Strom produzieren und dieser nicht am Markt abgesetzt wird, gehen wir davon aus, dass sie EU-konform sind», sagt der Botschafter Guillaume Cassaigneau, Leiter Internationales beim BfE. Er weist darauf hin, dass auch diverse EU-Länder während der Energiekrise im vergangenen Jahr Reservekraftwerke bereitgestellt hätten, ohne dass Brüssel deswegen eingeschritten sei. «Wir gehen deshalb nicht davon aus, dass die Stromreserve zum Stolperstein in den Verhandlungen wird.»
In den Gesprächen mit den EU-Unterhändlern wird es jedoch auch um die Dimension der Reservekapazitäten gehen. Ziel der EU ist es, dass die Infrastruktur innerhalb des Binnenmarktes so ausgestaltet ist, dass die Elektrifizierung und Dekarbonisierung zu möglichst geringen Kosten erfolgt. Überdimensionierte Reservekraftwerke laufen diesem Ziel aus Sicht der der EU zuwider. Es ist allerdings alles eine Frage der Perspektive: Wird die Schweiz isoliert betrachtet, sind die Gaskraftwerke nötig, um in Notlagen Versorgungssicherheit herzustellen. In einem europäischen Kontext jedoch könnten sie obsolet sein, da bei Engpässen grenzüberschreitend Reservekapazitäten aktiviert werden können.
Ob es die Reservekraftwerke überhaupt noch braucht, wenn die Schweiz über ein Stromabkommen verfügt, wird auch von der Strombranche infrage gestellt. So fordern sowohl die nationale Netzgesellschaft Swissgrid als auch der Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen (VSE), dass der Bund überprüfe, ob die bundesrätliche Stromreserve dann noch zweckmässig sei. Schliesslich könne die Beschaffung zukünftig grenzüberschreitend und technologieoffen erfolgen.
«Die Stromreserve hat uns in der Energiekrise im vergangenen Jahr eine Milliarde Franken gekostet», sagt der VSE-Direktor Michael Frank. «Es muss deshalb unser Ziel sein, von den Reservekraftwerken wegzukommen und mehr Stromunabhängigkeit zu erlangen.» Gelingen könne dies allerdings nur, wenn der inländische Ausbau der erneuerbaren Energien, namentlich der Wasserkraft, endlich umgesetzt werde.
Gemäss einer Studie der Eidgenössischen Elektrizitätskommission (Elcom) braucht die Schweiz zur Absicherung Gaskraftwerke vor allem für den Fall, dass die EU ihre Drohung wahr macht und ab 2026 der Schweiz 70 Prozent der grenzüberschreitenden Netzkapazitäten kappt. Kommt es so weit, könnte dies bei einer Verkettung verschiedener Ereignisse – etwa einem Ausfall der Kernreaktoren in Beznau im späten Winter – zu einer Mangellage führen. Schliesst die Schweiz ein Abkommen mit der EU ab, ist sie Teil des EU-Marktes – und wird damit auch in die Zuteilung der grenzüberschreitenden Netzkapazitäten einbezogen. Damit jedoch stellt sich die Frage, ob der Bau von Gaskraftwerken dann noch nötig ist.
Bergkantone fürchten um Gewässerhoheit
Die Reservekraftwerke sind in den Verhandlungen mit der EU nur ein Streitpunkt unter vielen. So sorgen sich etwa die Bergkantone, dass die EU in die Gewässerhoheit eingreifen könnte – und die Nutzung des Wassers im Strombereich betroffen wäre. Das Schweizer Recht gestattet die Konzessionsvergabe zur Stromproduktion explizit ohne Ausschreibung. Das EU-Recht jedoch sieht ab einem gewissen Schwellenwert eine Ausschreibepflicht vor. Vertreter von Bergkantonen fordern denn auch ultimativ, dass in diesem Bereich das Schweizer Recht zur Anwendung komme. Der Bundesrat hat diese Maxime in das Verhandlungsmandat aufgenommen. Im Bundeshaus weiss man: Bleibt die EU hart, werden die Bergkantone gegen das Abkommen Sturm laufen.
Für Kopfzerbrechen sorgen in der Strombranche zudem die strengen Entflechtungsvorgaben der EU. In der Schweiz sind die Energieversorger bereits heute verpflichtet, für den Netzbetrieb Buchhaltung und IT separat zu führen. Die EU-Bestimmungen gehen jedoch deutlich weiter und fordern, dass bei Unternehmen mit über 100 000 Kunden der Netzbetrieb auch rechtlich von den übrigen Tätigkeitsbereichen abgesondert wird. Davon betroffen wären in der Schweiz vierzehn Unternehmen, darunter auch das EWZ, das in die Zürcher Stadtverwaltung integriert ist. Diese Versorger müssten – sofern dies nicht schon der Fall ist – in eine externe Gesellschaft ausgegliedert werden, was mit einem beträchtlichen administrativen Aufwand verbunden wäre.
Zweifellos die grösste Hürde auf dem Weg zu einem Abkommen ist die vollständige Öffnung des Strommarktes. Die EU schreibt vor, dass jeder Stromverbraucher die Wahlfreiheit haben soll, ob er in der Grundversorgung bleibt oder Strom im freien Markt einkauft. Doch wie grosszügig das Wahlrecht ausgestaltet sein soll, ist umstritten. Können die Kunden jeden Monat ihren Anbieter wechseln, gefährdet dies die Planungssicherheit der einzelnen Versorger. Ebenfalls offen ist, wie stark die Preise reguliert werden sollen. Gemäss EU-Recht ist ein Schutz vor hohen Marktpreisen in der Grundversorgung nur teilweise möglich.
Es ist dies einer der Gründe, weshalb die Gewerkschaften die Liberalisierung des Strommarkts kategorisch ablehnen. Skeptiker finden sich jedoch auch unter den Energieversorgern, vor allem in der Westschweiz, und bis weit ins bürgerliche Lager hinein. Die grösste Herausforderung bei der Umsetzung der Marktöffnung dürfte deshalb nicht sein, die Schweizer Regelung in Einklang mit jener der EU zu bringen, sondern sie so auszugestalten, dass sie politisch mehrheitsfähig ist. Gelingt Letzteres nicht, ist das Abkommen ohnehin zum Scheitern verurteilt. NZZ, 23. März 2014, S. 11
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EU-Diskussion: Neues Selbstbewusstsein Der AHV-Erfolg hat die Gewerkschaften gestärkt. Das wird sich auch auf das EU-Dossier auswirken: SGB-Präsident Pierre-Yves Maillard will den Lohnschutz im Zweifel in einer Volksabstimmung verteidigen.
Neuer Anlauf, neues Glück: Am Montag, den 18. März 2024, schüttelten sich Bundespräsidentin Viola Amherd und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Brüssel die Hände. Drei Jahre nach dem Scheitern des Rahmenabkommens nehmen die Schweiz und die Europäische Union erneut Verhandlungen über ihre bilaterale Zusammenarbeit auf. Mit Elan und Engagement werde man ans Werk gehen, versprach Amherd: «Unsere Teams müssen Lösungen finden, die für beide Seiten stimmen.»
Neuer Anlauf, bekannte Probleme: Ob es zu weiteren Abkommen kommt, wird sich letztlich nicht in Brüssel entscheiden, sondern in einer Volksabstimmung in der Schweiz. Ein Referendum der SVP ist angesichts ihrer europapolitischen Fundamentalopposition so sicher wie das Amen in der Kirche. Mehrheiten für eine Öffnung und damit auch für den Erhalt der Personenfreizügigkeit gab es in der Vergangenheit jeweils nur, wenn sich die Gewerkschaften und die Wirtschaftsverbände auf eine soziale Absicherung der Verträge verständigten.
Bis anhin gab es für eine Annäherung zwischen Gewerkschaften und Verbänden keine Anzeichen. Doch nur wenige Tage bevor der Bundesrat das Verhandlungsmandat mit der EU veröffentlichte, ereignete sich Anfang März 2024 bekanntlich Historisches: Die 13. AHV-Rente wurde angenommen. Ein fulminanter Erfolg für die Gewerkschaften, eine krachende Niederlage der Wirtschaftsverbände. Wie hat sich dadurch ihr Kräfteverhältnis verändert? Und hat das allenfalls Auswirkungen auf die EU-Verhandlungen?
Veränderte Wahrnehmung
Pierre-Yves Maillard gilt seit dem Erfolg in einigen Medien als neuer Volkstribun. Selbst verweist der Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB) lieber auf eine «hervorragende Truppe» im Zentralsekretariat und auf eine griffige Kampagne «draussen im Terrain». Auf die Frage nach der Machtverschiebung durch die AHV-Abstimmung meint Maillard trocken: «Wir wollen uns nicht überschätzen. Sagen wir nur, dass wir nicht schwächer geworden sind.»
Das deutliche Resultat habe zuerst einmal Folgen für die Diskussionen um die Altersvorsorge. Ein Abbau der Leistungen oder eine Erhöhung des Rentenalters seien damit auf Jahre hinaus vom Tisch, ist Maillard überzeugt. «Beides sind zentrale Elemente der liberalen Agenda.» Doch das Resultat dürfte auch auf andere Themenfelder ausstrahlen, insbesondere auf die EU-Verhandlungen. «Hätten wir bei der AHV verloren, dann wären die Kommentare in den Medien erwartbar gewesen: Vorwärts ohne die Gewerkschaften!»
Stattdessen verfügen diese über neues Selbstvertrauen – und bringen es auch zum Ausdruck: In einem Brief an den Bundesrat kritisierten die Gewerkschaften das Verhandlungsmandat mit der EU scharf. «Besonders stören wir uns daran, dass der Bundesrat die EU-Spesenregelung nicht explizit von den Gesprächen ausgenommen hat», sagt Maillard. Diese würde es Firmen aus dem EU-Raum erlauben, Schweizer Firmen deutlich zu unterbieten. Weitere Kritikpunkte sind die geplanten Liberalisierungsschritte auf dem Strommarkt und neuerdings im Bahnverkehr.
«Der Bundesrat und seine Botschafter:innen nehmen den Lohnschutz noch immer zu wenig ernst», sagt Maillard. Der bisher einzige zählbare Erfolg in den Vorgesprächen zwischen der Schweiz und der EU sei eine «non-regression clause» – also eine Absicherung, dass der Status quo beim Lohnschutz erhalten bleiben soll. «Erreicht hat diese Klausel allerdings nicht der Bundesrat, das waren die Sozialpartner:innen im direkten Austausch mit EU-Vize Maroš Šefčovič.»
Um endlich Gehör bei der Regierung zu finden, verlangen die Gewerkschaften in ihrem Brief deshalb eine Aussprache. Andernfalls, so droht Maillard, würden sie die innenpolitischen Gespräche über flankierende Massnahmen zu neuen Abkommen sistieren. Mit ihrer Kritik stossen die Gewerkschaften neuerdings sogar in der NZZ auf Verständnis – auch das zeugt von einer veränderten Wahrnehmung der Kräfteverhältnisse. Wie aber sieht man all das beim Arbeitgeberverband, der bei den Wirtschaftsverbänden im EU-Dossier die Federführung hat?
Kompromisse? Fehlanzeige
Nach einem Wechsel an der Spitze im letzten Sommer gibt es dort zumindest einen neuen Ansprechpartner: Auf den oft erratisch wirkenden Valentin Vogt folgte Severin Moser. Der Versicherungsmanager war in einem früheren Leben olympischer Zehnkämpfer. Auf die AHV-Abstimmung angesprochen, gibt er nur eine Runde verloren, aber noch nicht den ganzen Wettkampf: «Ausschlaggebend für die Zustimmung auch bei einem Teil der Bürgerlichen war der Anstieg der Inflation innert kurzer Frist», lautet seine erste Analyse. Um von einer sozialpolitischen Zeitenwende zu sprechen, müsste sich das Ergebnis aber erst einmal bestätigen, bei den noch in diesem Jahr folgenden Abstimmungen über die Krankenkasseninitiativen oder über die Revision der zweiten Säule. Auf Themen fern der Sozialversicherungen wie etwa die EU-Verhandlungen dürfte das AHV-Resultat kaum Auswirkungen haben, meint Moser. «Die Gewerkschaften werden bei dieser Frage weiterhin lautstark ihre Punkte bringen. Aber das hätten sie auch bei einer Niederlage getan.»
Sechzehn Vorschläge hat der Gewerkschaftsbund den Arbeitgeber:innen zur Verbesserung des Lohnschutzes präsentiert. «Doch sie sind bisher leider höchstens auf technische Details eingetreten», sagt Gewerkschaftschef Maillard. Um das Lohndumping durch Entsendefirmen aus dem EU-Raum zu unterbinden, wäre es für die Gewerkschaften am wirkungsvollsten, wenn die Gesamtarbeitsverträge für alle Unternehmen in einer Branche einfacher verbindlich erklärt würden: Diese legen jeweils die Mindestlöhne fest, die nicht unterboten werden dürfen. Arbeitgeberpräsident Moser will auf diese Forderung weiterhin nicht eintreten: «Im Bau und im Baunebengewerbe, die von der Entsendearbeit besonders betroffen sind, gibt es ja bereits Gesamtarbeitsverträge.»
Moser betont, dass man auch seitens der Arbeitgeber für den Erhalt des bisherigen Lohnschutzniveaus eintrete. «Wir bieten aber nicht Hand zu einem Ausbau, der zulasten eines flexiblen Arbeitsmarktes geht.» Was die Verhandlungen mit der EU betrifft, zeigt sich der Arbeitgeberpräsident zuversichtlich: «Über alles betrachtet, werden wir zu ähnlichen Lösungen kommen, wie sie heute gelten.»
Die Einschätzung der Lage geht zwischen den Gewerkschaften und den Wirtschaftsverbänden also weit auseinander. Mit Wirtschaftsminister Guy Parmelin müsste nun ausgerechnet jener Mann vermitteln, der sich in der Diskussion um den Lohnschutz seit Jahren auffällig rarmacht. Wohl wissend, dass jede Einigung zwischen den Sozialpartner:innen die Position seiner eigenen SVP schwächt. Maillard will deshalb über die kommenden Abstimmungen den Druck erhöhen: «Es ist klar geworden, dass Abstimmungen nötiger geworden sind, um sich für faire Löhne und gegen Kaufkraftverluste einzusetzen.» Falls die ausgehandelten EU-Abkommen den Lohnschutz nicht erfüllen, ist für Maillard die letzte Konsequenz klar: «Dann werden wir auch sie in einer Abstimmung bekämpfen.» Von Kaspar Surber, WoZ, 21. März 2024, S. 4
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Die strengen EU-Steuerregeln 2023 stellte die EU-Kommission in ihrem Strategic Foresight Report fest, dass die EU rund 620 Milliarden Euro an zusätzlichen jährlichen Investitionen benötigt, um ihre Klimaziele zu erreichen. Dann einigten sich die EU-Finanzminister im Dezember 2023 auf eine Reform der Haushaltsregeln, die die meisten Regierungen zu Ausgabenkürzungen verpflichtet. Geld auf EU-Ebene steht ebenfalls nicht mehr zur Verfügung, da das Konzept des „Europäischen Souveränitätsfonds“ von der EU-Kommission anscheinend auf Eis gelegt wurde. Wenn dann noch die Militärausgaben steigen und die Förderung von Technologien mit doppeltem Verwendungszweck und Militärtechnologien zunimmt, wird die Aufgabe unmöglich.
Entweder werden die Sparmaßnahmen nicht eingehalten oder die politischen Ziele werden nicht erreicht. Die Klimamaßnahmen der EU werden durch die Gestaltung ihrer Geldpolitik behindert, die im Sinne des Ordoliberalismus das vorrangige Ziel der Preisstabilität verfolgt. In den letzten beiden Jahren haben wir erlebt, wie die EZB auf einen angebotsbedingten Preisschock mit einer Anhebung der Zinssätze reagierte, was viele Branchen und Hypothekennehmer in Schwierigkeiten brachte.
Wenn sich die nächsten Angebotsschocks aufgrund geopolitischer Ereignisse abzeichnen und die Energie- und Schifffahrtskosten infolge der Angriffe auf das Rote Meer oder aufgrund von Umweltkatastrophen steigen, wird sich eine auf Preisstabilität ausgerichtete EZB gezwungen sehen, die Zinssätze erneut anzuheben und die öffentlichen und privaten Investitionen und damit das Wirtschaftswachstum zu bremsen.
Es muss gesagt werden, dass die neuen fiskalischen Regeln ein wenig mehr Flexibilität als früher zulassen. Dennoch bleiben die wichtigsten Grundsätze der ordoliberalen EU unverändert, vor allem weil sie in den EU-Verträgen verankert sind und diese nur einstimmig geändert werden können. Diese Tatsache vergrößert das Demokratiedefizit der EU, nicht zuletzt, weil die ordoliberalen wirtschaftspolitischen Grundsätze verteilungspolitische Konsequenzen haben.
Selbst große europäische Volksmehrheiten werden sie nicht ändern können, solange ein einzelnes Land daran festhalten möchte. Und ein einzelnes Land kann nicht beschließen, andere wirtschaftspolitische Grundsätze zu verfolgen, während es in der EU bleibt.
Die „Entpolitisierung“ der Wirtschaftspolitik ist an sich schon undemokratisch, aber man kann sagen, dass sie die Demokratie im Allgemeinen untergräbt. In einem Chatham House-Forschungspapier aus dem vergangenen Jahr wird argumentiert, dass die Unmöglichkeit, grundlegende politische Debatten über die Wirtschaftspolitik zu führen, den Schwerpunkt der Debatte auf andere, oft ätzendere kulturelle Fragen verlagert und den Aufstieg der Rechtsextremisten begünstigt.
Deren Aufstieg in den letzten Jahren, zu dem auch die Sparpolitik beigetragen hat, hat die EU-Politiker dazu veranlasst, eine härtere Haltung gegenüber der Einwanderung einzunehmen, zu einem Zeitpunkt, an dem ein alterndes Europa viele Arbeitskräfte benötigen würde, was wiederum das Wirtschaftswachstum bremst. Sie bremsen das Wachstum, verlangsamen die Innovation und damit den grünen Wandel, erhöhen die Armut, stellen die Interessen der Unternehmen gegen die Arbeitnehmer und den grünen Wandel und bringen die Arbeitnehmer in eine benachteiligte Verhandlungsposition, alles in der Hoffnung, dass die Marktkräfte am Ende das Richtige bewirken werden. Es ist offensichtlich, dass dies nicht der Fall ist, und in der Zwischenzeit geht der langsame Niedergang der EU-Industrie weiter. 4. März 2024, Frank Keoghan, People’s News, www.people.ie. https://thepeoplesnews.home.blog/2024/03/04/time-to-ditch-the-eus-austerity-fiscal-rules/
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EU beschließt neokoloniales Freihandels-Abkommen mit Chile Am 1.3.2024 ratifizierte das EU-Parlament das erweiterte Handels- und Investitionsabkommen zwischen der EU und Chile. Es zeigt einmal mehr: Während in Sonntagsreden der Klimaschutz betont wird, wird unter der Woche fleißig an der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen gearbeitet.
Im Norden Chiles, in der Atacamawüste, lagert ein wertvoller Rohstoff: Lithium. Lithium ist unter anderem als Bestandteil von Akkus unentbehrlich für E-Auto, seine Nachfrage ist explodiert. Doch die Förderung von Lithium verbraucht enorm viel Wasser: Um eine Tonne Lithium zu produzieren, benötigt man etwas 900.000 Liter Wasser – und das in einer der trockensten Regionen der Erde. Um möglichst billig an Lithium und andere Rohstoffe wie Kupfer zu kommen, schloss die EU-Kommission im Jahr 2005 ein Handelsabkommen mit Chile und verhandelt seither über ein aktualisiertes Abkommen, das jetzt im EU-Parlament verabschiedet wurde.
Im Kapitel „Energie und Rohstoffe“ erhält die EU als privilegierter Handelspartner erweiterte Möglichkeiten zur Rohstoffausbeutung. So dürfen Rohstoffe weder an inländische noch an ausländische Abnehmer günstiger abgegeben werden als an die EU. Im Agrarsektor schafft das Abkommen alle Zölle außer diejenigen auf Zucker ab. Die Agrarproduktion soll also für den Export ausgerichtet werden. Dabei ist die Anbaufläche für landwirtschaftliche Produkte in Chile in den letzten Jahrzehnten deutlich gesunken, kleine Produzenten wurden verdrängt, die lokale Lebensmittelversorgung ist gefährdet.
EU-Kommission hat in dem Handelsabkommen verankert, dass ausländische Investoren Staaten vor Sondergerichten verklagen dürfen. So könnten Investoren voraussichtlich entgangene Gewinne einklagen. Das birgt für finanziell schwächere Staaten wie Chile ein erhebliches Risiko und kann dazu führen, dass schon Klageandrohungen notwendige Regulierungen zum Schutz von Mensch und Umwelt verhindern. Während die Handelskapitel mit Sanktionen bewehrt sind, werden die Abschnitte zu Menschenrechten und Naturschutz als bloße Absichtserklärungen deklariert.
Das EU-Chile-Freihandelsabkommen setzt eine Reihe von neokolonialen Abkommen fort, deren Ziel es nicht zuletzt ist, die Automobilindustrie einen zweiten Frühling zu verschaffen, statt eine klimafreundliche Verkehrswende durchzusetzen. https://www.solidarwerkstatt.at/arbeit-wirtschaft/eu-beschliesst-neokoloniales-freihandels-abkommen-mit-chile Werkstatt-Rundbrief 4/2024, Solidarwerkstatt Linz, (März 2024)
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Gespaltenes Italien: Trotz Milliarden wird die Kluft zwischen Nord und Süd immer grösser Italiens Regierungen pumpen seit Jahrzehnten viel Geld in den Mezzogiorno. Der wirtschaftliche Abstand zwischen Norden und Süden wächst trotzdem. Können milliardenschwere EU-Programme die Wende bringen?
Als Pier Paolo Pasolini 1964 seinen von der Kritik gefeierten Film «Das 1. Evangelium – Matthäus» vorstellte, waren viele Italiener schockiert. Denn der im süditalienischen Matera vor allem mit Laiendarstellern gedrehte Streifen zeigte auch die schreiende Armut der Menschen, die mit ihrem Vieh in feuchten Grotten lebten. Matera war ein Symbol für die Rückständigkeit Süditaliens.
Heute ist die Höhlenstadt ein Touristenmagnet, und sie war 2019 sogar europäische Kulturhauptstadt. In den verschachtelten Häusern und in den in den Tuffstein geschlagenen Grotten sind vielfach luxuriöse Hotels und Gäste-Appartements eingerichtet worden. Der Wohlstand ist sichtbar.
Im Süden arbeitet nicht einmal jeder Zweite
Die extreme Armut von damals gibt es zwar nicht mehr. Doch der wirtschaftliche Abstand zwischen Süd- und Norditalien wächst dennoch. Dies lässt sich anhand weniger Zahlen illustrieren: Der Mezzogiorno, also die Regionen Abruzzen, Apulien, Basilikata, Kampanien, Kalabrien, Molise, Sardinien und Sizilien, trug 2020 nur 22 Prozent zum Bruttoinlandprodukt (BIP) Italiens bei. 1995 waren es noch 24 Prozent gewesen. Das im Süden erwirtschaftete BIP pro Kopf ist nur halb so hoch wie im Norden.
Die Beschäftigungsquote bei den 15- bis 64-Jährigen lag 2021 im Norden bei 58,2 Prozent, im Süden bei nur 44,8 Prozent. Dort arbeitet nur ein Drittel der Frauen. Im Norden ist es fast die Hälfte. Und zwischen 2002 und 2021 wanderten 2,5 Millionen Süditaliener ab, vor allem jüngere und gut ausgebildete Arbeitskräfte. Mit rund 20 Millionen Menschen wohnt etwa ein Drittel der Bevölkerung im Mezzogiorno.
Auch die jüngste Pisa-Studie spiegelt die Kluft wider: Während die Schüler in Norditalien fast so gut abschnitten wie die «Europameister» in Estland, lagen diejenigen aus Süditalien deutlich unter dem Durchschnitt.
Dabei pumpen Rom und Brüssel seit Jahrzehnten viele Milliarden in den Süden. Davon zeugen Strassen und Brücken, die im Nichts enden, oder das einst grösste Industrieareal Süditaliens mit einem Stahl-, Chemie- und Zementwerk im Stadtteil Bagnoli in Neapel. Die Reste der 1992 geschlossenen Anlagen rosten vor sich hin.
Auch die 2011 geschlossene Fiat-Fabrik im sizilianischen Termini Imerese sucht eine Nachfolgenutzung. Das gigantische Stahlwerk von Taranto in Apulien wurde gerade unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt.
Milliardensegen aus Brüssel
«Die Kluft zwischen Nord- und Süditalien ist seit der Einigung des Landes 1860 gewachsen – mit Ausnahme der Zeit zwischen 1950 und 1970», sagt die renommierte Ökonomin Lucrezia Reichlin, Professorin an der London Business School: «Viele Historiker sind der Auffassung, dass das Wirtschaftsmodell Italiens den Norden begünstigt hat, nicht den Süden, auch weil entsprechende Reformen gefehlt haben.»
Neuere Studien zeigten, dass die umfangreichen Transfers in den Süden in den ersten 25 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg dagegen ein Erfolg gewesen seien. In dieser Zeit sei die Konvergenz gewachsen: «Die Interventionen hatten auch nachhaltige Auswirkungen auf Produktivität und Beschäftigung», so Reichlin.
Auch wegen des zunehmenden Gewichts der lokalen Politik und der Korruption sowie durch die Zersplitterung von Entscheidungsprozessen sei die positive Entwicklung etwa 1970 beendet worden. In jüngster Zeit habe zusätzlich das Fehlen von Reformen dazu beigetragen, dass europäische Strukturhilfen nur magere Erfolge brachten.
Geld allein kann jedenfalls keine Lösung sein. Dennoch kann der Süden einen neuen Geldsegen erwarten. Mithilfe des europäischen Wiederaufbauprogramms Next Generation EU wird ein neuer Anlauf unternommen. 40 Prozent der 191,5 Milliarden Euro, die Italien als grösster Nutzniesser des Programms erhält, gehen in den Süden. Zusammen mit weiteren EU-Programmen sind es für Italien sogar 237 Milliarden Euro. «Eine Jahrhundertchance», sagt Fabio De Felice, Professor an der Università degli Studi in Neapel sowie Chef und Gründer des IT-Dienstleisters Protom. Er beklagt das «Fehlen einer klaren Vision, eines Projekts».
Der Süden hat etwas zu bieten
Dabei sind im Süden durchaus Kompetenzen vorhanden, an die man andocken kann. Im Salento, ganz unten am Stiefelabsatz, ist eine hochwertige Luxus-Schuh- und -Taschen-Industrie entstanden, die für Christian Louboutin, Gucci, Valentino, Louis Vuitton oder Dior produziert. Der LVMH-Chef Bernard Arnault hat dort investiert.
Um Neapel gibt es ein IT-Cluster. Apple bildet am Vesuv zusammen mit der neapolitanischen Universität Federico II jährlich Hunderte von Software-Entwicklern aus. Deloitte hat eine Digital Academy gegründet. Auch die Luft- und Raumfahrtindustrie der Hafenstadt ist sehr leistungsfähig.
Und nirgendwo anders in Italien werden Sonnen- und Windenergie so intensiv genutzt wie im Süden. Der italienische Energieversorger Enel hat im April 2023 im sizilianischen Catania die grösste Anlage Europas zum Bau von Solarzellen und Solarpaneelen eröffnet.
Dennoch ist Reichlin nicht sehr optimistisch. Im europäischen Wiederaufbauprogramm würden nur «existierende Projekte zusammengeführt, aber es gab keine allgemeinen Überlegungen über Prioritäten und wie vorzugehen ist. Es fehlte die Zeit, und es gab seit dem Start des Programms drei Regierungen.» Sie wolle nicht zu pessimistisch sein. Die Investitionen würden sicher das Wachstum ankurbeln. Aber eine dauerhaft positive Entwicklung in Gang zu setzen, bleibe schwierig.
Auch Reichlins Kollege Tito Boeri von der Bocconi-Universität in Mailand hält wenig von dem milliardenschweren Geldsegen. Es sei plötzlich viel zu viel Geld da. «Die Verwaltungen im Süden sind nicht in der Lage, es vernünftig auszugeben», fürchtet er. Boeri ist Autor des Buches «Europäisches Wiederaufbauprogramm – das grosse Saufgelage». Der Titel spricht Bände.
Korruption wegen fehlender Ausschreibungen
Dass auf Betreiben des Vize-Regierungschefs Matteo Salvini bei Projekten, die weniger als 5,3 Millionen Euro kosten, auf Ausschreibungen ganz verzichtet wird, hält Boeri für falsch. Freihändige Vergaben überforderter Verwaltungen und fehlende Kontrollen öffneten kriminellen Organisationen wie Camorra oder Mafia Tür und Tor.
Ivo Allegro, Chef des international tätigen Finanzberaters Iniziativa, ist der Auffassung, es müssten zuerst einmal die mit dem Erhalt des Geldes verbundenen Reformversprechen umgesetzt werden: von einer Justiz- über eine Verwaltungsreform bis hin zur Öffnung von Märkten. Italien liefert nicht und setzt versprochene Reformen teilweise seit Jahrzehnten nicht um.
Salvini trommelt derweil lieber medienwirksam für den Bau einer Brücke zwischen Sizilien und dem Festland. Die geschätzten Kosten belaufen sich auf 13,5 Milliarden Euro. Es handelt sich um ein Prestigeprojekt. Denn im Süden selbst ist die Infrastruktur oft miserabel. Für die 60 Kilometer von Bari nach Matera fährt man mit dem Zug mindestens zwei Stunden. Die schnellste Zugverbindung für die 350 Kilometer lange innersizilianische Strecke zwischen Syrakus und Trapani dauert elf Stunden und neun Minuten – vier Mal muss man umsteigen.
Für die Ökonomin Reichlin ist es entscheidend, in die Qualität der öffentlichen Verwaltung zu investieren, in Pilotprojekte mit starken externen Effekten und eine zentralisierten Verwaltung. Langfristig sollte man sich um die Schulen und die Ausbildung im Allgemeinen kümmern. Kurzfristig sollte der Fokus auf die Bekämpfung der hohen Zahl von Schul- und Universitätsabbrechern gelegt werden.
Ein Mittel dazu: ein oder zwei Pole der Spitzenforschung, zum Beispiel in Neapel. Dies sei besser, als alle Universitäten mit Geld zu überhäufen. Alte Industrieanlagen zu sanieren und neu auszurichten, gehört auch dazu. Hierbei gilt es auch die Wirkungen auf die Umwelt zu beachten.
Italiens Schulden nehmen weiter zu
Seit Anfang Jahr ist ganz Süditalien eine steuerbegünstigte Sonderwirtschaftszone. Vereinfachte Verfahren, einheitliche Ansprechpartner und niedrigere Steuern sollen Investitionen fördern. Ist das der richtige Weg? Reichlin zweifelt daran. Sie plädiert für ausgewählte Sonderwirtschaftszonen. Es gebe zu viele davon, was zu einem wahllosen Geldverteilungsmechanismus geführt habe.
Tito Boeris Fazit macht auch nicht viel Hoffnung. Das viele Geld aus Europa wecke Begehrlichkeiten: «Am Ende wird Italien noch mehr Schulden haben, seine strukturellen Probleme aber nicht gelöst haben», so seine Warnung. NZZ, 5. März 2024, S. 25
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Konzernverantwortung: Die neuen EU-Regeln scheitern am Widerstand diverser Länder – die Schweiz ist direkt betroffen Die provisorische Einigung in der EU auf verschärfte Sorgfaltspflichten für grosse Firmen hat sich in Luft aufgelöst. Diese Woche haben viele Mitgliedstaaten mit ihrer Opposition eine Verabschiedung der neuen Regeln verhindert.
Das Prozedere in der EU für neue Gesetze geht oft etwa wie folgt: Die EU-Kommission schlägt etwas vor, das EU-Parlament will noch weitergehen, der Ministerrat (der die Mitgliedländer vertritt) drückt auf die Bremse, und schliesslich einigen sich die Verhandlungsdelegationen von Parlament und Ministerrat auf einen Kompromiss – dessen formelle Bestätigung durch Parlament und Ministerrat in der Regel nur noch Formsache ist.
So lief es auch grossenteils bei der Kontroverse um das geplante EU-Lieferkettengesetz. Die Verhandlungsdelegationen von Parlament und Ministerrat hatten sich im vergangenen Dezember auf verschärfte Sorgfaltspflichten für Unternehmen mit mindestens 500 Angestellten und einem weltweiten Umsatz ab 150 Millionen Euro geeinigt. Für Risikobranchen wie etwa Textilien, Landwirtschaft und Rohstoffabbau sind tiefere Schwellenwerte vorgesehen.
Die Sorgfaltspflichten der Firmenzentralen sollen auch deren Tochtergesellschaften in aller Welt und die ganze Lieferkette sowie sogar gewisse Kunden betreffen. Neben erheblichen Bussen bei Verfehlungen war auch eine ausdrückliche zivilrechtliche Haftung der Firmenzentralen für absichtlich oder fahrlässig verursachte Schäden vorgesehen. In einigen Punkten liegen die geplanten EU-Regeln nahe bei der gescheiterten Schweizer Konzernverantwortungsinitiative, in anderen Punkten gehen sie weniger weit.
Bürokratiemonster befürchtet
Doch seither hat sich die Einigung in Luft aufgelöst. Lautstarker Widerstand kam zunächst vor allem aus deutschen Industriekreisen, die ein bürokratisches Monster und grosse Rechtsunsicherheit befürchteten. In der deutschen Regierung stiessen solche kritischen Stimmen vor allem bei der FDP auf Resonanz. Die belgische Präsidentschaft des EU-Ministerrats hat es bisher nicht geschafft, in einer Abstimmung die nötige qualifizierte Mehrheit zu erreichen (mindestens 15 Mitgliedstaaten, die zusammen mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung umfassen).
Diesen Mittwoch ist auch der jüngste Versuch zu einer erfolgreichen Abstimmung gescheitert. Neben Deutschland hatten auch andere Staaten wie Italien und Frankreich eine Enthaltung angekündigt – eine Enthaltung ist in der Wirkung mit einer Ablehnung gleichzusetzen. Gemäss diversen Medienberichten auf Basis der Äusserungen von Diplomaten hatte sich nur eine Handvoll Staaten klar für das neue Gesetz ausgesprochen, während über ein Dutzend Länder Enthaltung übte.
Bern schaut nach Brüssel
Für die Schweiz ist die Entwicklung in der EU sehr wichtig. Zum einen dürften neue EU-Regeln für viele grossen Schweizer Firmen mit bedeutenden Aktivitäten in der EU direkt gelten. Und zum anderen hatte sich der Bundesrat beim Abstimmungskampf um die Konzernverantwortungsinitiative für ein «international abgestimmtes Vorgehen» ausgesprochen – was faktisch eine Ausrichtung der Schweiz auf die EU-Regeln bedeutete. Bei einer Verschärfung der EU-Regeln käme dieses Thema somit höchstwahrscheinlich auch wieder auf die Agenda der Schweizer Politik.
Wie es nach dem jüngsten Scheitern in Brüssel weitergeht, ist noch offen. Denkbar wäre ein erneuter Versuch einer Abstimmung im EU-Ministerrat in nächster Zeit. Doch ob sich der breite Widerstand in kurzer Zeit ohne Änderung des Gesetzesprojekts auflösen wird, ist höchst fraglich. «Wir sollten das EU-Lieferkettengesetz in der jetzigen Form begraben», erklärte der deutsche FDP-Justizminister Marco Buschmann dem Informationsportal «Politico». Die deutsche CSU-Europaparlamentarierin Angelika Niebler sagte Ähnliches: «Die belgische Ratspräsidentschaft sollte nun endgültig die Bremse ziehen und das Scheitern des Gesetzes eingestehen.»
Das würde nicht heissen, dass es überhaupt kein EU-Lieferkettengesetz gäbe. Aber es ist gut möglich, dass die EU über einige Lockerungen im geplanten Gesetz nachdenken muss. Eine Neuauflage des Gesetzesprojekts wäre vermutlich erst nach den EU-Parlaments-Wahlen von diesem Juni zu erwarten. NZZ, 1. März 2024, S. 24
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EU-Asylpolitik: Europa schafft sich ab Die kürzlich beschlossene Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) schafft das individuelle Recht auf Asyl de facto ab. Höchste Zeit, aktiv zu werden!
Im Dezember 2023 einigten sich die EU-Mitgliedstaaten und das Europäische Parlament auf eine Reform, die den Zugang zum Recht auf Asyl massiv einschränken wird. Mit der GEAS-Reform führt die EU verkürzte Asylverfahren in Haft-Lagern an den EU-Aussengrenzen ein, selektiert vermehrt nach Nationalität und Reiseweg anstatt nach individuellen Fluchtgründen und vereinfacht Ausschaffungen in unsichere Drittstaaten. Anstatt endlich eine solidarische Verteilung der Asylsuchenden in Europa zu erreichen, zementiert die Reform zudem die menschenverachtenden Dublin-Regeln und verschärft sie noch.
Die GEAS-Reform ist eine späte Antwort auf den Zusammenbruch des europäischen Grenzregimes im «langen Sommer der Migration» 2015. Sie wurde 2016 von der EU-Kommission angestossen und 2020 als «Neuer Pakt für Asyl und Migration» in den Gesetzgebungsprozess eingebracht (siehe die Sosf-Bulletins Nr. 3 und 4/2020). In der nun verabschiedeten Form ist das GEAS vom Irrglauben geprägt, dass sich Flucht und Migration durch noch mehr Entrechtung und Gewalt tatsächlich aufhalten lassen. Gleichzeitig stirbt mit der Reform die Hoffnung auf eine gemeinsame und solidarische europäische Asylpolitik.
Verkürzte Grenzverfahren als neue Norm
Asylsuchende aus Ländern mit einer Anerkennungsquote von unter 20% durchlaufen in Zukunft nur noch stark verkürzte Grenzverfahren – inhaftiert in Lagern wie dem in Moria auf der griechischen Insel Lesbos. Ruft ein EU-Mitgliedstaat eine «Migrationskrise» aus, kann er sogar alle Geflüchteten in den neuen Grenzverfahren abfertigen. Ob dabei überhaupt auf ihre Asylgesuche eingetreten wird, hängt von ihren Fluchtrouten ab. Haben Geflüchtete Länder wie die Türkei, Serbien oder Tunesien durchquert, die die EU zu sicheren Drittstaaten erklären wird, werden ihre Gesuche gar nicht erst zugelassen.
Sollten sie es trotzdem in weiter nördlich gelegene Länder schaffen, sind sie dort mit verschärften Dublin-Regeln konfrontiert. Die sechsmonatige Überstellungsfrist, nach deren Verstreichen bisher (zum Beispiel auch in der Schweiz) ein Selbsteintritt fällig wurde und die mancherorts in Kirchenasylen überbrückt wurde, kann auf ein Jahr verlängert werden. Bei Untertauchen oder «mangelnder Kooperation» (wohlgemerkt bei der eigenen Zwangsausschaffung) sogar auf drei Jahre.
Untätige Schweiz
Und was macht die Schweiz? Bisher schaut sie untätig zu und reibt sich die Hände. Nicht ohne Grund schrieb die NZZ bereits im Juni 2023: «Die Schweiz wird von der Reform des EU-Asyl- und Migrationssystems profitieren. Für sie ist es ein Vorteil, wenn sich die EU an den Aussengrenzen stärker abschottet. Dennoch sind damit für sie kaum Verpflichtungen verbunden». Denn da die neuen Grenzverfahren nicht zum Schengen-/Dublin-Besitzstand gehören, wird sich die Schweiz daran nicht die Hände schmutzig machen. Gleichzeitig kann sie Geflüchtete aufgrund der verschärften Dublin-Regeln weiterhin quer durch Europa verschieben.
Solidarité sans frontières verlangt, dass sich die Schweiz auf EU-Ebene klar gegen die Grenzverfahren und gegen eine Ausweitung der Drittstaatenregelung ausspricht und Geflüchtete im Gegenzug freiwillig aufnimmt. Sollte dies nicht geschehen, muss die Möglichkeit eines Referendums gegen die Übernahme der für die Schweiz relevanten Teile der GEAS-Reform ernsthaft in Erwägung gezogen werden.
27. März 2024, Dieser Text erschien zuerst im Sosf-Bulletin Nr. 1/2024. (Solidarité sans frontières, https://www.sosf.ch/de/article/eu-asylpolitik-europa-schafft-sich-ab)
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Das ist europapolitischer Selbstmord So schlecht war der Start in eine Verhandlung mit der Europäischen Union wohl noch selten: Ob SVP, FDP, die Mitte, die Gewerkschaften oder wer auch immer – ausser der Economiesuisse steht niemand wirklich hinter dem, was Bundesrat Ignazio Cassis am Freitag als Verhandlungsmandat präsentierte. Wenn nicht noch ein Wunder geschieht, dann wird das, was Cassis’ Vermächtnis werden sollte, zu einem Rohrkrepierer.
Ein Anfängerfehler ist zuerst mal, dass das Mandat, mit dem in Brüssel verhandelt werden soll, bereits im Internet steht. Dementsprechend kann es auch der Verhandlungspartner lesen. Und die Schweizer Delegation kann kaum mehr hinter das zurück, was sie dort zugesteht. Und das ist einiges. Viel mehr jedenfalls, als im Inland akzeptiert ist.
Da sind einerseits natürlich die Einwände der SVP. Sie sind immer dieselben, nämlich dass eine Einigung bei dem, was man früher Rahmenvertrag und heute Bilaterale 3 nennt, fremde Richter darüber entscheiden, was in der Schweiz gelten soll. Gemeint ist die Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs, die zumindest indirekt eben doch gegeben ist, wenn das eingesetzte Schiedsgericht sich nicht einig wird.
Andererseits haben auch die Gewerkschaften gewichtige Vorbehalte. Sie fürchten noch immer um die flankierenden Massnahmen, die die Schweizer Löhne schützen. Ob es ihnen wirklich nur darum geht oder auch um all die Macht, die sie sich in dem Dossier gesichert haben, sei dahingestellt. Aber dass Cassis mit der EU verhandeln will, wenn er weder die Gewerkschaften, noch die SVP, noch die Mitte hinter sich hat, ist europapolitischer Selbstmord.
Arbeitgeber müssen den Gewerkschaften Zugeständnisse machen
Cassis fehlt ganz offensichtlich die Kunst, Allianzen zu schmieden. In diesem Fall würde das bedeuten, einen Kompromiss zwischen den Gewerkschaften und den Arbeitgebern zu erzielen. Zugegeben: Das ist nicht einfach, denn beiden geht es um Macht und Einfluss. Aber für beide steht viel auf dem Spiel. Für die Arbeitgeber als Vertreter der Wirtschaft, den Zugang zum wichtigsten Absatzmarkt. Für die Gewerkschaften besteht das Problem, dass ihr politischer Allianzpartner, die Sozialdemokratische Partei, im Grunde sehr europafreundlich ist. Die SP und ihre Basis wollen seit Jahren der EU beitreten.
Was es braucht, damit sich der Knoten löst, weiss man seit Jahren. Die Arbeitgeber müssen den Gewerkschaften Zugeständnisse machen bei der Allgemeinverbindlichkeit von Gesamtarbeitsverträgen. Das würde in der Sache helfen, Lohndumping zu verhindern. Allerdings würde dies auch die Vertragsfreiheit und das liberale Arbeitsrecht einschränken. Das mag man bedauern – aber wenn die Wirtschaft zu dieser Konzession nicht bereit ist, dann kann man die Übung abbrechen. Vielleicht wäre es besser, man tut dies bald, anstatt die EU mit sinnlosen Verhandlungen zu beschäftigen.
Denn so, wie es jetzt aussieht, ist das Scheitern bei einer Volksabstimmung gewiss. Man kann sich nur wundern, warum sich Cassis dies antut. Rätselhaft ist auch, dass der Bundesrat grünes Licht gegeben hat zu einem solchen Himmelfahrtskommando. Sonntagszeitung, 10. März 2024, S. 2.
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