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Kurzinfos November 2021
Ignazio Cassis und die Realpolitik Ignazio Cassis sagt in einem Interview vom 9. November 2021 in der NZZ bezüglich Einstellungen zur EU in der Schweiz: "Die einen übernehmen implizit die Forderungen der EU. Die anderen träumen immer noch davon, dass die Schweiz dasselbe Gewicht habe wie die EU." Damit unterstellt Cassis, dass es bei internationalen Verhandlungen darum geht, sich dem Willen des "Gewichtigeren" unterzuordnen. Seit der Auflösung der Kolonialreiche nach dem zweiten Weltkrieg, gilt allerdings der Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker (Artikel 1, Punkt 2 der UNO-Charta). Auf diesen Grundsatz sollte man pochen, auch wenn Realpolitik sich selten nach hehren UNO-Prinzipien richtet, wie die EU-Kommission beweist. 9. November 2021
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Fischerei-Streit zwischen Frankreich und Grossbritannien
Der umstrittene Zugang französischer Fischer zu britischen Gewässern treibt Paris und London an den Rand einer Eskalation. Auf beiden Seiten geht es um politisches Kalkül und Symbolpolitik, aber auch um die Durchsetzung grundsätzlicher Interessen nach dem Brexit.
Im Dezember 2020 hätte nicht viel gefehlt, und das Brexit-Handelsabkommen wäre an einem wirtschaftlich unbedeutenden Streitpunkt gescheitert: dem europäischen Zugang zu den britischen Fischgründen. Zehn Monate später ist der alte Streit mit neuer Wucht zurück.
Paris und London stellten sich Ende Oktober 2021 gegenseitig Ultimaten. Frankreich drohte damit, britische Boote am Anlegen in französischen Häfen zu hindern und die Kontrollen im Lastwagenverkehr zu intensivieren, was die Versorgung Grossbritanniens vor dem Weihnachtsgeschäft hart treffen würde. Die britische Regierung wiederum drohte mit Vergeltungsmassnahmen und rechtlichen Schritten. Nun versuchen am Donnerstag, den 4. November 2021, der französische Europa-Staatssekretär Clément Beaune und der britische Brexit-Minister David Frost bei Krisengesprächen in Paris den Konflikt zu entschärfen.
Dem Streit haftet etwas Theatralisches an, zumal es im Grunde um wenig geht: Frankreich gibt vor, britische Willkür nach dem Brexit zu wittern und beklagt, die britischen Behörden und die zu Grossbritannien gehörende Kanalinsel Jersey hätten mehr als 100 Fischern Lizenzen für den Zugang zu den britischen Fischgründen verwehrt. Die Briten hingegen stellen sich auf den Standpunkt, sie setzten bloss den Wortlaut des Handelsabkommens von 2020 um.
Das Abkommen gewährt den EU-Europäern während einer Übergangszeit Zugang zu britischen Gewässern. Doch erhalten nur Fischer eine Lizenz, die belegen können, dass sie schon vor dem Brexit in den britischen Fischgründen tätig waren – wobei die Art des erforderlichen Nachweises nicht definiert ist. Die Angaben über die Zahl der erteilten und der verweigerten Lizenzen gehen auseinander. Doch fällt es gerade kleineren Booten ohne elektronischen Fahrtenschreiber schwer, ihre bisherigen Aktivitäten in britischen Gewässern zu beweisen.
Frankreich sieht seine Fischer bei der Lizenzvergabe besonders benachteiligt. Zwar sind die angedrohten Vergeltungsmassnahmen nun bis Donnerstag, den 4. November 2021, aufgeschoben, sie sind aber nicht vom Tisch. In einem zweiten Schritt könnten auch Frankreichs Stromlieferungen an Grossbritannien hinterfragt werden, hiess es vergangene Woche aus Paris.
Dass Paris so heftig reagiert, hat vordergründig politische Gründe. Die Fischerei macht in Frankreich nur etwa 0,06 Prozent des Bruttoinlandprodukts aus. Die Branche hat aber eine starke symbolische Bedeutung – sie steht, wie auch die Landwirtschaft, für das traditionelle Frankreich. Dass die Fischer nicht vor Protesten zurückschrecken, machten sie Anfang Oktober deutlich. Sie drohten, den Hafen von Calais und den Tunnel unter dem Ärmelkanal zu blockieren, sollte Grossbritannien nicht rasch zusätzliche Lizenzen ausstellen. Präsident Emmanuel Macron will knapp sechs Monate vor den Präsidentschaftswahlen im April 2022 jeden sozialen Unmut vermeiden und es sich mit den Fischern nicht verscherzen. Zudem will es Macron den Briten «zeigen» – der Brexit soll gemäss Macron möglichst mühsam werden.
Macron dürfte mit seiner entschlossenen Haltung gegenüber Grossbritannien auch ein Signal an jene Herausforderer senden wollen, die hoffen, bei den Wahlen mit EU-Kritik in den Élysée-Palast einzuziehen. Deutlich wurde das durch ein Schreiben, das Frankreichs Premierminister Jean Castex jüngst an Ursula von der Leyen schickte. Darin appellierte Castex an die EU-Kommissions-Präsidentin, Grossbritannien zum Einlenken zu bewegen. Zudem forderte er, der europäischen Öffentlichkeit zu zeigen, dass es mehr Schaden mit sich bringe, die EU zu verlassen, als Mitglied zu bleiben.
Darüber hinaus treibt Paris, das in den Brexit-Diskussionen bis zuletzt als harter Verhandlungspartner auftrat, die Befürchtung um, dass es auch für andere Post-Brexit-Streitfragen Folgen haben könnte, wenn man Grossbritannien im Fischereistreit keine Grenzen setzt. Umstritten ist namentlich das Nordirland-Protokoll, das nach dem Brexit eine Landgrenze auf der irischen Insel verhindern soll.
Der Streit um die Fischer ist auch in Grossbritannien symbolisch aufgeladen. Die Fischerei, die bloss 0,1 Prozent zur britischen Wirtschaftsleistung beiträgt, wird schon seit Beginn der Brexit-Wirren politisch überhöht. Die Kontrolle über die eigenen Gewässer ist die vielleicht greifbarste Art der Kontrolle, welche die Brexiteers versprochen hatten zurückzuholen, und spielt auf die einstige Stellung Grossbritanniens als Beherrscherin der Weltmeere an.
Kommt hinzu, dass Frankreich ein historischer Rivale ist. Einem Premierminister, der mit antifranzösischer Rhetorik Stimmung macht, war der Applaus der Boulevardzeitungen schon immer gewiss. Zudem hat der Brexit Boris Johnson ins Amt getragen, weshalb es für seine Tories attraktiv erscheint, die Rivalitäten mit der EU am Köcheln zu halten. Dennoch schien man in London ob der Vehemenz der französischen Drohungen überrascht zu sein. Bestätigt sehen sich nun jene, die in Paris seit dem Brexit eine tiefe Missgunst wittern.
Mit der Beziehung zwischen den beiden Ländern steht es schon länger nicht zum Besten. Paris hat noch nicht verdaut, dass die USA, Australien und Grossbritannien Mitte September 2021 hinter seinem Rücken das Militärbündnis Aukus ins Leben riefen. Die Franzosen verloren dabei nicht nur ein U-Boot-Geschäft von 56 Milliarden Euro mit Australien. Auch ihr Selbstverständnis als wichtiger Akteur im Indopazifik erlitt einen Dämpfer. In London ist derweil die Ansicht verbreitet, Paris mache zu wenig, um die irreguläre Migration über den Ärmelkanal einzudämmen. Nicht vergessen haben viele Briten überdies, wie Macron im Frühjahr das britische Vakzin AstraZeneca schlechtredete.
Für Johnson ist der politische Druck hoch, Macron die Stirn zu bieten, doch hat London kein Interesse an einer echten Eskalation. Zum einen zeigte sich im Dezember 2020, wie gross die Abhängigkeiten sind, als Frankreich scharfe Covid-19-Kontrollen einführte und den Lastwagenverkehr über den Ärmelkanal ins Chaos stürzte. Zum anderen könnte ein dauerhaftes Zerwürfnis auch die Sicherheitspartnerschaft der beiden Nato-Alliierten beschädigen.
Denkbar ist, dass die Briten mit ihrer formalistischen Haltung rund um die Fischerlizenzen auch die Verhandlungsmasse erweitern wollen für ihre Forderung nach einer Überarbeitung des Nordirland-Protokolls. Doch dass sich Grossbritannien nicht mehr an die Verpflichtungen aus dem erst 2019 unterzeichneten Vertrag halten will, nährt das Misstrauen der Nachbarstaaten. Macht Johnson seine Drohung wahr und setzt einseitig Teile des Protokolls ausser Kraft, ist der Streit um die Fische bloss der Anfang. NZZ, 4. November 2021, S. 3
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Schweizer Parlamentarier enttäuscht von der EU Für drei Tage reiste die Aussenpolitische Kommission des Nationalrates nach Brüssel, um sich über die Zukunft des bilateralen Weges zu informieren. Ihre Bilanz fällt wenig positiv aus: Die EU-Seite habe sich «verhärtet», sei «wenig flexibel» und zeige «ideologische Züge».
Einer reiste frühzeitig ab. Roger Köppel hatte Besseres vor, als nach zwei Tagen «fact-finding mission» in Brüssel, nach intensiven Gesprächen mit Europaabgeordneten, EU-Beamten und Diplomaten, auch noch einen dritten Tag in der Hauptstadt der «Erpressungs-Union» (Köppel) zu verweilen. Immerhin hatte sich auch der «Weltwoche»-Chefredaktor und SVP-Nationalrat freiwillig und zusammen mit neun Schweizer Aussenpolitikern in die Höhle des Löwen begeben.
Doch am letzten Tag der Reise sollte es in der Schweizer Mission an der Place du Luxembourg anderen überlassen sein, eine Bilanz der Reise zu ziehen. Tiana Angelina Moser, die Grünliberale und Leiterin der Delegation, sprach vor Brüsseler Journalisten über die gesammelten Erkenntnisse, wie es ein halbes Jahr nach dem Abbruch der Verhandlungen zum Rahmenabkommen um die bilateralen Beziehungen stehe. Zusammengefasst: nicht gut.
Es sei, sagte Moser, bei allen Gesprächen doch sehr deutlich geworden, dass nicht nur der eigentliche Entscheid zum Abbruch der Verhandlungen, sondern auch die «Art und Weise», wie er kommuniziert wurde, bei der EU eine «merkliche Verstimmung» zurückgelassen habe – und das sei «noch freundlich ausgedrückt».
Die Ausgangslage habe sich «verhärtet». Denn für die EU würden offene Fragen des Marktzugangs und Kooperationsfragen nur noch zusammen gedacht. Man sei in Brüssel also nicht bereit, die institutionellen Streitpunkte vorerst auszuklammern und separat über Kooperationen etwa bei der Forschung oder der Bildung zu verhandeln. Strebe die Schweiz etwa eine Vollassoziierung beim EU-Forschungsprogramm Horizon Europe an, müsse sie auch in den Kernfragen, die den Marktzugang betreffen, einen Schritt weiter kommen.
Was die Freigabe der Kohäsionsmilliarde betreffe, so habe die EU dies zwar zur Kenntnis genommen. Sie habe jedoch auch durchblicken lassen, dass damit nicht «unbedingt ein Beitrag zur Entspannung geleistet» worden sei, so Moser.
Nur einige EU-Abgeordnete, berichteten die Delegationsteilnehmer, hätten versöhnlichere, «flexiblere» Töne angeschlagen. Dass diese im Schweiz-EU-Dossier jedoch wenig zu sagen haben und die Musik in der Kommission spielt, wissen auch die Besucherinnen und Besucher aus Bern.
SVP-Nationalrat Franz Grüter meinte, dass es «noch viel Zeit und Aufwand» brauche, um der EU den Standpunkt der Schweiz zu erklären. Die Erwartungshaltung der Kommission sei: «Wenn ihr Marktzugang haben wollt, dann müsst ihr unsere Regeln akzeptieren.» Auf der anderen Seite, so Grüter, lägen die Meinungen in der Schweiz zu diesem Thema eben sehr weit auseinander. Man befinde sich hier in einem demokratischen Prozess.
Besonders enttäuscht zeigte sich der SP-Nationalrat Eric Nussbaumer über das «Powerplay» der EU-Kommission. Es habe schon «ideologische Züge», sagt er, wenn Brüssel die Kooperationsfragen nicht separat behandeln wolle und den Wunsch der Schweiz, sich mit Horizon Europe zu assoziieren, als «Rosinenpickerei» betrachte. Immerhin bringe die Schweiz ja auch Geld in das Programm, die Forschungskooperation sei von beidseitigem Interesse. Mit einer solchen Haltung, so Nussbaumer, tue sich Brüssel keinen Gefallen, denn damit verschrecke es auch die pro-EU- Kräfte in der Schweiz. NZZ, 11. November 2021, S. 8
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EU-Taxonomie: Erdgas und Atomenergie „grün“ Aus einem sogenannten Non-Paper, das zurzeit in Brüssel kursiert, geht offenbar hervor, dass Gas- und Atomkraftwerke in das Klassifizierungssystem der EU für nachhaltige Finanzen aufgenommen werden. Der WWF reagierte empört.
Wie das Nachrichtenportal Euractiv berichtete, heißt es im geleakten Papier, dass Gaskraftwerke und Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen nicht mehr als 100 Gramm CO2-Äquivalent pro Kilowattstunde (gCO2/kWh) ausstoßen dürfen. Diese Vorgabe decke sich mit früheren Vorschlägen aus dem vergangenen Jahr.
Allerdings gebe es zusätzliche Kriterien für Gaskraftwerke, die als „Übergangstechnologie“ eingestuft werden können sowie eine Auslaufklausel bis zum 31. Dezember 2030 für die Inbetriebnahme neuer Anlagen. Das Übergangslabel bekämen etwa Gaskraftwerke, deren „direkte Emissionen“ niedriger sind als 340gCO2/kWh und deren jährliche Emissionen 700 kgCO2/kW nicht überschreiten.
Nach Auffassung des WWF sind die Kriterien für Gas „radikal schwächer“ als ein früherer Kommissionsvorschlag. Diese Gaskraftwerke könnten 2035 oder später in Betrieb gehen, was „in völligem Widerspruch zum Netto-Null-Szenario“ der Internationalen Energieagentur steht. Dieses besagt, dass zur Begrenzung des globalen Temperaturanstiegs auf 1,5 Grad Celsius keine Investitionen in neue fossile Energieprojekte getätigt und Gaskraftwerke in den Industrieländern bis 2035 abgeschaltet werden müssen.
Laut Euractiv werden für die Kernenergie in dem Papier noch keine detaillierten Nachhaltigkeitskriterien vorgeschlagen. Lediglich werden Tätigkeiten in vier Kategorien eingeteilt:
Betrieb von Kernkraftwerken: Erzeugung von Strom, einschließlich Bau, Inbetriebnahme, Betrieb und Stilllegung von Kernkraftwerken
Lagerung oder Entsorgung von radioaktiven Abfällen oder abgebrannten Brennelementen (Ermöglichungstätigkeit)
Abbau und Verarbeitung von Uran (Ermöglichungstätigkeit)
Wiederaufbereitung von abgebrannten Brennelementen (Ermöglichungstätigkeit)
Das Non-Paper sei das Ergebnis eines Treffens der EU-Energieminister*innen von Ende Oktober 2021, bei dem sich zwölf EU-Länder für die Aufnahme der Kernenergie in die Taxonomie ausgesprochen hatten.
Für den WWF ist klar: Die Non-Paper-Kriterien zur Kernenergie beruhten auf den „fehlerhaften technischen Empfehlungen der Gemeinsamen Forschungsstelle der Kommission“, die nicht einmal vorschreiben, dass betriebliche Anlagen für die langfristige Entsorgung hochradioaktiver nuklearer Abfälle vorhanden sein müssen: Lediglich einen Plan für die Entwicklung solcher Anlagen zu haben, reiche nicht aus.
Laut der Kommission sollen die Kriterien darüber, welche Aktivitäten als nachhaltig eingestuft werden und somit Investitionen anziehen dürften, noch dieses Jahr veröffentlicht werden.
WWF EU: EU taxonomy: secret attempt to brand gas and nuclear as 'green' https://www.wwf.eu/?uNewsID=4980841
Euractiv: LEAKED: Paper on gas and nuclear’s inclusion in EU green finance rules
https://www.euractiv.com/section/energy-environment/news/leaked-paper-on-gas-and-nuclears-inclusion-in-eu-green-finance-rules/
DNR-Nachrichten, 04. November 2021
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Der Konflikt um Taiwan Parallel zu einer US-Kampagne zur Stärkung Taiwans im gemeinsamen Machtkampf gegen Peking fordert das EU-Parlament eine "umfassende und verstärkte Partnerschaft" mit Taipeh. Anfangs November 2021 war erstmals eine Delegation des Parlaments auf Taiwan eingetroffen und führte dort Gespräche mit Spitzenpolitikern mit dem Ziel eines weiteren Ausbaus der Beziehungen. Das Europaparlament sprach sich zudem für zusätzliche Schritte aus, die die "Ein-China-Politik" relativiert. So soll etwa die Vertretung der EU in Taipeh in "Büro der Europäischen Union in Taiwan" umbenannt werden – ein sprachliches Detail, das allerdings in der Welt der Diplomatie Gewicht besitzt und einen Schritt in Richtung auf die förmliche Anerkennung Taiwans nahelegt. Letztere ist mit diplomatischen Beziehungen von der Peking-Seite her nicht akzeptiert. Die neue Taiwan-Kampagne verbindet sich mit einer Kampagne gegen die auswärtige Kulturpolitik der Volksrepublik, speziell die Konfuzius-Institute. Rufe nach deren Schließung werden laut.
"Hebel" gegen Peking
Die nächste Bundesregierung soll "mutig in die Beziehungen zu Taiwan investieren". Dies fordert Thorsten Benner, Direktor des angeblich unabhängigen, allerdings aktuell zu 40 Prozent von nicht näher genannten "Regierungen" finanzierten Global Public Policy Institute (GPPi) in Berlin.[1] Benner hat vor dem Hintergrund einer US-Kampagne, die – im Widerspruch zur Beschlusslage der UN – Taiwan einen Platz in den Vereinten Nationen verschaffen soll [2], an die Bundesregierung appelliert, sich umgehend für eine "bessere Vertretung Taiwans in internationalen Organisationen" stark zu machen. Parallel sollen die Kontakte zwischen deutschen und taiwanischen Ministern und Abgeordneten, aber auch "NGOs, Think Tanks, Studierenden und Schülern" intensiviert werden. Außerdem gelte es "Szenarien durch[zu]spielen" für den Fall, dass der Taiwan-Konflikt eskaliere; dazu müsse man etwa "einen politischen Beitrag zu einer glaubwürdigen Abschreckung Pekings" leisten. Benner plädiert dafür, "die Vereinigten Staaten und Europa" sollten "wirtschaftliche und technologische Hebel identifizieren", um bei Bedarf gegen China vorzugehen – "etwa einen möglichen Ausschluss Pekings von der Halbleiter-Wertschöpfungskette".
"Verstärkte Partnerschaft" mit Taiwan
Auf EU-Ebene sind Schritte zum systematischen Ausbau der Kooperation mit Taiwan längst im Gang. So hat etwa das Europaparlament die EU am 21. Oktober aufgefordert, sich – im Sinne der US-Kampagne – "nachdrücklich für die sinnvolle Beteiligung Taiwans" an "internationale[n] Gremien", darunter ausdrücklich auch UN-Organisationen, auszusprechen.[3] Zudem gelte es "eine umfassende und verstärkte Partnerschaft" mit Taipeh anzustreben; insbesondere solle Brüssel Vorarbeiten "zu einem bilateralen Investitionsabkommen mit den taiwanischen Behörden in die Wege" leiten. China solle veranlasst werden, "seinem anhaltenden Eindringen in die Flugüberwachungszone Taiwans unverzüglich ein Ende zu setzen". Wie das möglich sein soll, bleibt unklar: Taiwans Flugraumüberwachungszone reicht bis weit auf das Territorium der Volksrepublik. Zusätzlich zum Europaparlament macht sich der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell nicht nur dafür stark, wie bisher die "Handels- und Investitionsbeziehungen" zu Taiwan zu stärken und "bestehende Dialoge", so zur Industriepolitik oder zur Digitalwirtschaft, auszubauen.[4] Die EU werde sich bemühen, die weiter reichenden Forderungen des EU-Parlaments praktisch umzusetzen, kündigt Borrell an. Am 3. November 2021 ist erstmals eine Delegation des EU-Parlaments in Taipeh eingetroffen, um dort Gespräche zu führen. Treffen sind unter anderem mit Taiwans Präsidentin Tsai Ing-wen geplant.[5]
Bedeutungsvolle Begriffe
Mehrere EU-Staaten preschen dabei mittlerweile vor. So hat Litauen bereits im Sommer die Eröffnung einer Vertretung Taiwans unter der Bezeichnung "taiwanisches Repräsentationsbüro" genehmigt. Stein des Anstoßes ist dabei nicht die Eröffnung einer Vertretung an sich, sondern die Namensgebung. Staaten, die diplomatische Beziehungen zur Volksrepublik unterhalten, sagen im Gegenzug die Wahrung der Ein-China-Politik zu und verzichten auf diplomatische Kontakte zu Taiwan; dem wird sprachlich dadurch Ausdruck verliehen, dass Auslandsvertretungen inoffiziell bleiben und nach der taiwanischen Hauptstadt Taipeh benannt werden. So heißen Taiwans Kontaktstellen in Deutschland etwa "Taipeh Vertretung"; die Vertretung der Bundesrepublik in Taiwan heißt, in abweichender Rechtschreibung, "Deutsches Institut Taipei". Nennenswerte Auswirkungen auf die praktische Arbeit der Vertretungen haben die jeweiligen Bezeichnungen nicht. Die demonstrativ abweichende Namenswahl in Litauen weckt den Verdacht, dass Vilnius mittel- bis langfristig eine Abkehr von der Ein-China-Politik anstrebt. Peking hat deshalb unter Protest seinen Botschafter aus Litauen abgezogen.[6]
Für weitere Proteste hat Ende Oktober 2021 eine Europareise des taiwanischen Außenministers Joseph Wu und einer hochrangigen taiwanischen Wirtschaftsdelegation gesorgt. Wirtschaftsaustausch und die dazu nötigen Besuche sind zwischen den EU-Staaten und Taiwan durchaus üblich; davon zeugt nicht zuletzt die Tatsache, dass die EU zuletzt, rechnet man die Aktivitäten von Unternehmen aus allen Mitgliedstaaten zusammen, größter ausländischer Investor auf Taiwan war. Taiwan befand sich im vergangenen Jahr auf Platz 26 der Rangliste der Handelspartner der Bundesrepublik – vor Ländern wie Norwegen, Südafrika oder Brasilien. Allerdings ist es aufgrund der Ein-China-Politik international üblich, keine Beziehungen auf der Ebene von Spitzenpolitikern zu unterhalten; der Besuch von Außenminister Wu aus Taipeh in Tschechien, in der Slowakei und in Brüssel rief daher heftigen Unmut in Peking hervor. In Brüssel traf Wu nicht zuletzt mit EU-Abgeordneten zusammen, darunter Charlie Weimers von den extrem rechten Schwedendemokraten. Weimers ist Berichterstatter des Europaparlaments für Taiwan; unter anderem auf seine Tätigkeit in dieser Funktion geht die vom Parlament beschlossene Forderung zurück, die Vertretung der EU in Taipeh in "Büro der Europäischen Union in Taiwan".
Verbotene Schriftzeichen
Der Ausbau der Beziehungen zu Taiwan, was Peking als Provokation darstellt, gehen mit einer neuen Kampagne gegen die auswärtige Kulturpolitik der Volksrepublik einher, speziell gegen die Konfuzius-Institute. Nach Streitigkeiten um eine Buchvorstellung bei zwei Konfuzius-Instituten, die zunächst abgesagt worden war, sind jüngst zum wiederholten Male Forderungen laut geworden, die Institute zu schließen.[7] Als Alternative werden dabei "Chinesisch-Sprachzentren" beworben, die Taiwan mit Unterstützung der US-Regierung aufzubauen begonnen hat: zunächst an 15 US-Standorten, in London, in Paris und in Hamburg. An den Zentren soll "ein positives Taiwan-Bild vermittelt werden. Zudem dürfen an den taiwanischen Sprachzentren, die für sich mit der Aussage werben, "frei und demokratisch" zu sein, laut Berichten "Lehrer mit chinesischem Pass oder Ausweisdokumenten aus Hongkong ... nicht unterrichten".[8] Darüber hinaus behält sich, heißt es, "die zuständige taiwanische Behörde ... eine Genehmigung der Lehrbücher vor"; strikt "verboten" sind unter anderem "Materialien mit vereinfachten chinesischen Schriftzeichen".
[1] Thorsten Benner: Deutschland muss Peking in Taiwan die Stirn bieten. faz.net 28.10.2021.
[2] S. dazu Der Konflikt um Taiwan (I). https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8753/
[3] Empfehlung des Europäischen Parlaments vom 21. Oktober 2021 an den Vizepräsidenten der Kommission und Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik zu den politischen Beziehungen und der Zusammenarbeit zwischen der EU und Taiwan. Strasbourg, 21.10.2021.
[4] EU-Taiwan political relations and cooperation: Speech on behalf of High Representative/Vice-President Josep Borrell at the EP plenary. eeas.europa.eu 19.10.2021.
[5] 'You are not alone,' EU parliament delegation tells Taiwan on first official visit. euractiv.com 04.11.2021.
[6] Streit um Vertretung Taiwans: Litauen ruft Botschafterin aus Peking zurück. derstandard.de 03.09.2021.
[7] Bildungsministerin bringt Aus für chinesische Konfuzius-Institute ins Spiel. welt.de 29.10.2021.
[8] Friederike Böge: Chinesisch lernen, nur demokratisch. Frankfurter Allgemeine Zeitung 29.10.2021.
5. November 2021, https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8755/
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«Schnellschuss» für 953 Millionen Franken – die neuste Idee der Europafreunde im Bundeshaus riecht nach Verzweiflung Die Schweiz soll die Kohäsionsmilliarde massiv aufstocken, um die EU bei der Forschung gnädig zu stimmen. Diese Idee der Aussenpolitiker des Nationalrats ist voraussichtlich weder mehrheitsfähig noch umsetzbar.
Anträge in dieser Dimension sieht man selten: Das Parlament soll den Kredit für den zweiten Kohäsionsbeitrag an ärmere EU-Staaten in der Dezembersession kurzerhand um 953 Millionen Franken erhöhen. Damit würden die Mittel fast verdoppelt: von 1,1 auf 2 Milliarden, verteilt auf zehn Jahre. Diesen überraschenden Plan lanciert die Aussenpolitische Kommission (APK) des Nationalrats.
Die Aussenpolitiker wollen den Geldsegen an Bedingungen knüpfen: Im Gegenzug soll die EU der Schweiz bei mehreren Kooperationsabkommen entgegenkommen, insbesondere bei der Forschung (Horizon) sowie beim Studentenaustausch (Erasmus+).
Der Antrag wirft viele Fragen auf. Vor allem: Wäre das überhaupt sinnvoll umsetzbar? Ist es möglich, auf die Schnelle so viele zusätzliche Entwicklungsprojekte in EU-Ländern zu finden, welche die Schweiz über den bereits bestehenden Beitrag hinaus mitfinanzieren könnte? Laut der Verwaltung ist bereits die Umsetzung im bisherigen Umfang eine Herausforderung.
«Aller Voraussicht nach nicht möglich»
Der Zeitdruck ist gross, weil die gesetzliche Basis Ende 2024 ausläuft. Der Aufwand, der hinter der Kohäsionsmilliarde steht, wird oft unterschätzt. Die Schweiz überweist die Gelder nicht einfach an die Partnerstaaten, sondern bezahlt Beiträge an gemeinsam vorbereitete Projekte und schliesst dazu spezifische Umsetzungsabkommen ab.
Das Aussendepartement (EDA) reagierte nicht gerade euphorisch auf den Vorschlag. Bei einer substanziellen Erhöhung seien zusätzliche «vertiefte Vorbereitungsarbeiten» mit den Partnerländern notwendig. Obendrein würden sich grundsätzlich Fragen zur «thematischen Ausrichtung» der Gelder stellen. Fazit des EDA: Mit der derzeitigen Rechtsgrundlage und den Eckwerten des Kohäsionsbeitrags sei eine vollständige Umsetzung nach einer Aufstockung «aller Voraussicht nach nicht möglich».
Wie sieht das die APK? Die Präsidentin, Tiana Moser (glp.), sagt, falls die Beträge bis Ende 2024 nicht verwendet würden, brauche es eine neue gesetzliche Grundlage. Dieses Vorgehen birgt jedoch neue Stolperfallen: Ob das Parlament so rasch eine Verlängerung des Gesetzes beschliessen würde, steht in den Sternen. Fraglich wäre auch die inhaltliche Ausrichtung: «Osthilfe» als Hauptthema ist kaum mehr zeitgemäss. Und das letzte Wort hätte wohl das Volk.
Regeln des Budgetprozesses helfen den Gegnern
Moser betont, die Schweiz müsse die Debatte darüber führen, welche Zusammenarbeit sie mit «Europa» wolle – und dazu gehöre die Kohäsion. «Trotz dem hohen Nutzen, den die Schweiz bisher aus dem Zugang zum Binnenmarkt gezogen hat, bezahlen wir relativ bescheidene Beiträge. Norwegen bezahlt dreimal mehr.» Kurzfristig wolle die APK vor allem den Willen zur Deblockierung unterstreichen. «Wir wollen dem Bundesrat Spielraum geben, damit er sich beim nächsten Treffen im Januar auf die EU zubewegen und mit finanziellen Beiträgen substanzielle Zusagen machen kann.»
Allerdings dürfte der Antrag im Parlament kaum Chancen haben. Selbst wenn er im Nationalrat durchkommt, dürfte sich der Ständerat widersetzen. Er steht dem Kohäsionsbeitrag generell skeptischer gegenüber. Damit hat die kleine Kammer bessere Karten: Wenn sich die beiden Räte über einen bestimmten Punkt im Budgetprozess nicht einigen, setzt sich automatisch die Version mit dem tieferen Betrag durch.
Hält die Schweiz die EU für käuflich?
Im Ständerat kommt die Idee auch bei Aussenpolitikern schlecht an, die sich für eine Einigung mit der EU einsetzen und den Rahmenvertrag grundsätzlich unterstützt haben. Damian Müller (fdp.) etwa, Präsident der APK des Ständerats, sagt: «Wenn wir etwas nicht brauchen können, dann solche unüberlegten Ideen nach dem Prinzip Hoffnung, ohne Strategie und ohne Konzept.» Die Schweiz habe mit der Freigabe der Kohäsionsmilliarde einen ersten Schritt gemacht. Nun müsse man abwarten, ob sich auch die EU bewege.
Müller spricht von einem «kreuzfalschen Zeichen»: Aus seiner Sicht würde die Schweiz damit signalisieren, dass sie erstens die EU für käuflich halte und zweitens ausser Geld nichts zu bieten habe. «Beides ist falsch.» In der Pflicht sei der Bundesrat: «Bevor das Parlament nun auf Vorrat mit Milliarden um sich wirft, muss der Gesamtbundesrat endlich einen Plan entwickeln und aufzeigen, wie er den bilateralen Weg weiterentwickeln will.» Müller verlangt eine Strategie und ein Umsetzungskonzept samt Zeitplan. Man komme nicht darum herum, auch die schwierigen institutionellen Fragen wie die dynamische Rechtsübernahme zu berücksichtigen, wobei hier eine Lösung kurzfristig unmöglich sei.
Logik der EU ist «fragwürdig, aber klar»
Ähnlich skeptisch reagiert Mitte-Ständerat Benedikt Würth. Er stuft den Vorschlag als «Schnellschuss» ein. Die Schweiz brauche jetzt keine unkoordinierten Hauruckübungen, sondern ein Gesamtpaket als Basis für weitere Gespräche. «Vermutlich werden die Kohäsionsbeiträge Teil eines solchen Pakets sein, aber es bringt nichts, nun zum Voraus einseitig einzelne Konzessionen zu machen.»
Würth hält den Vorschlag auch für aussichtslos: «Ich kann mir nicht vorstellen, dass die EU bei Horizon plötzlich nachgeben könnte, nur weil wir mehr Geld in Aussicht stellen.» Brüssel verfolge bei der Forschung eine zwar fragwürdige, aber klare Logik: Sie orientiere sich dogmatisch am Level der Integration. Als Erstes kämen die EU-Länder selber, dann die EWR-Staaten, danach jene mit einer Assoziierung und am Ende Drittstaaten wie die Schweiz. Angesichts der hohen Dichte an bilateralen Verträgen sei das aus Schweizer Sicht nicht verständlich. «Aber das ist zurzeit die Realität unserer Beziehung: Der bilaterale Weg wird von der EU blockiert. Um das zu ändern, braucht es mehr als eine übereilte Aufstockung der Kohäsionsbeiträge.» NZZ, 24. November 2021, S. 7
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Die EU setzt Bern wieder unter Druck – ohne sich selbst um einen Millimeter zu bewegen. Nach dem Treffen mit Aussenminister Ignazio Cassis will die EU den «Dialog» mit der Schweiz beschleunigen. Bis Januar soll eine «Road Map» vorliegen, wie und wann die institutionellen Fragen gelöst werden sollen. Kommt aus Bern dazu ein politisches Bekenntnis, könnte es auch bei Horizon Europe wieder vorangehen – die altbekannte, erpresserische Politik der EU.
«Die Schweiz darf in der Europapolitik nicht noch einmal in die gleiche Falle tappen», hat Aussenminister Ignazio Cassis gesagt, bevor er am Montag, den 15. November 2021, nach Brüssel gereist ist. Dort traf der Bundesrat den neu für die Schweiz zuständigen EU-Kommissar Maros Sefcovic. Dennoch entsteht am Ende des Tages der Eindruck, dass es im gleichen Stil wie vorher weitergeht. Vorher, das ist vor dem Abbruch der Gespräche über ein institutionelles Rahmenabkommen zwischen der Schweiz und der EU im Mai 2021. Die EU-Kommission bleibt stur auf ihren rechtsimperialistischen Positionen sitzen.
Das beginnt schon damit, dass Cassis und Sefcovic separat vor die Medien traten. Die beiden waren sich aber einig, dass sie den von Bern gewünschten politischen «Dialog» nicht nur aufnehmen wollen, sondern diesen auch intensivieren möchten. Vorgesehen ist, dass sie am Weltwirtschaftsforum in Davos im Januar 2022 erstmals Bilanz ziehen. Was allerdings Sefcovic unter dieser «Intensivierung» versteht, tönt ziemlich anders als das, was Cassis offenbar damit meint. Der EU-Kommissar will einen Fahrplan für die Lösung «aller offenen strukturellen Fragen» in den bilateralen Beziehungen erarbeiten. Und die «wirklichen» strukturellen Probleme sind laut Sefcovic die dynamische Anpassung von Schweizer Gesetzen an das EU-Recht, gleiche Wettbewerbsbedingungen, ein Streitbeilegungsmechanismus und ein regelmässiger finanzieller Beitrag der Schweiz zur EU-Kohäsionspolitik.
Darüber hinaus verlangt Brüssel von Bern ein unmissverständliches politisches Signal, dass sich die Schweiz in einem realistischen Zeitrahmen auf die kritischen Fragen einlassen will. Mit anderen Worten: Die Kommission hat keine Lust, bis nach den Wahlen im Herbst 2023 um den heissen Brei herumzureden.
Bei Cassis tönte das alles etwas anders. Er will den Beziehungen «eine positive Dynamik verleihen». So werde nun auf Ministerebene ein «strukturierter politischer Dialog» etabliert. Gemeinsam solle nun eine Standortbestimmung vorgenommen und eine Agenda erarbeitet werden. Über diese berate man dann in Davos, heisst es in einer am Montag versandten Pressemitteilung.
Vor den Medien wollte Cassis nichts von den offensichtlichen Widersprüchen wissen. Dazu gehört, dass die EU so schnell wie möglich wieder über institutionelle Fragen zu reden beabsichtigt, während der Bundesrat das mehr oder weniger explizit erst 2024 nach den Wahlen tun möchte.
Es sei selbstverständlich, dass beide Seiten ihre Forderungen hätten. Es gehöre nun zur Erarbeitung der gemeinsamen Agenda, dass man die Interessen zusammenzubringen versuche. Tatsächlich ist es mit diesem Ansatz möglich, dass nun auch gewisse Wünsche der Schweiz wie ein Stromabkommen mit auf den Tisch kommen, die beim Rahmenabkommen noch ausgeklammert waren.
Dennoch ist der Konflikt vorprogrammiert, wenn die EU beispielsweise die Fragen der Personenfreizügigkeit wieder aufgreifen will. Cassis erklärte in Brüssel, er habe seinem Gesprächspartner klar gesagt, dass man in dem Fall nicht vorankommen werde. Denn die Schweiz habe dazu eine klare Haltung, und der Bundesrat habe deswegen die Verhandlungen über das Rahmenabkommen beendet.
Auch bezüglich eines politischen Signals aus Bern wiegelte Cassis ab. Das stärkste Signal habe bereits das Schweizer Parlament gesendet, indem es die zweite Kohäsionsmilliarde freigegeben habe. Bis im Januar werde der Bundesrat nun kein weiteres Signal mehr senden.
Cassis und Sefcovic sprachen auch über die Assoziierung der Schweiz beim EU-Forschungsrahmenprogramm Horizon Europe. Dieses läuft von 2021 bis 2027, und anders als beim Vorgänger Horizon 2020 erhalten die Schweizer Forscher keinen vollständigen Zugang. Sefcovic betonte, man schliesse die Schweiz nicht aus. Dennoch wirkt es stossend, dass die EU ausgerechnet die Türkei bereits vollständig zugelassen hat.
Man werde die Beziehungen mit der Schweiz ganzheitlich betrachten, um über den Zugang zu Horizon Europe zu entscheiden, sagte Sefcovic. Solange Bern kein ernstzunehmendes Engagement bei den für die EU wichtigen Fragen zeige, werde man bei dem Forschungsprogramm kaum vorankommen. Hinter den Kulissen war zudem zu hören, dass die «politische Grosswetterlage» durchaus eine Rolle dabei spiele, ob man der Schweiz hier entgegenkommen könne. Im Klartext verknüpft die EU weiterhin Forschung und Marktzugang. Das bezeichnete Cassis als «kontraproduktiv und unverständlich».
Damit löst auch die freigegebene zweite Kohäsionsmilliarde offensichtlich nicht das ein, was man sich in Bern von ihr versprochen hatte. Cassis betonte zwar, dass Sefcovic positiv darauf reagiert und sich bedankt habe. Dasselbe gilt auch für die vollständige Freizügigkeit für die Bürger Kroatiens. Dennoch bleibt das Horizon-Europe-Dossier weiter blockiert – Unterwürfigkeit bei Machtungleichgewichten und daraus folgender Erpressung lohnt sich selten.
Immerhin gibt es laut Cassis eine Einigung bezüglich der Absichtserklärung zur Kohäsionsmilliarde auf technischer Ebene. Nun können die jeweiligen politischen Genehmigungsverfahren eingeleitet werden. Die Erklärung war umstritten, weil die Kommission darin festhalten wollte, dass die Kohäsionsbeiträge der Schweiz eine Art Eintrittsticket für den Binnenmarkt seien und in Zukunft regelmässig erfolgen sollten. Bern sieht dieses Geld aber seit je als freiwilligen Beitrag der Schweiz für ärmere EU-Staaten im Osten Europas und damit als Wohltätigkeit und nicht als Eintrittspreis. Bern fordert zudem keinen Beitrag für den Marktzutritt in die Schweiz.
Die Schweiz müsse herausfinden, was sie wolle und welchen Preis sie zu zahlen bereit sei, hatte Cassis vor seiner Reise gesagt. Und wenn man nicht die gleichen Fehler wie beim Rahmenabkommen begehen möchte, dann sollte das von Anfang an unmissverständlich Brüssel mitgeteilt werden.
In der Schweiz fallen die Reaktionen durchzogen aus. Am einfachsten ist die Sache bei der SVP: Sie lehnt eine Einigung bei institutionellen Fragen wie der Rechtsübernahme oder der Streitschlichtung grundsätzlich ab und wünscht sich, dass der Bundesrat diese Haltung der EU klipp und klar kundtut. Diese Haltung ist in der Schweiz nicht mehrheitsfähig. So nahm etwa der FDP-Präsident Thierry Burkart die Nachrichten aus Brüssel am Montag verhalten positiv auf: «Es ist ein gutes Zeichen, dass beide Seiten den Dialog fortsetzen wollen.» Dass die EU eine klare Struktur für die Gespräche verlange, sei nachvollziehbar. «Nicht partnerschaftlich» sei hingegen, dass Brüssel an der sachfremden Verknüpfung mit der Forschungszusammenarbeit festhalte, um die Schweiz unter Druck zu setzen. Dies erschwere die Lösungssuche bedeutend.
Burkart hält es dennoch für realistisch, dass der Bundesrat bis im Januar einen Zeitplan mit konkreten Themen für die Gespräche vorschlagen kann. «Inhaltlich darf er jedoch zurzeit keine verbindlichen Zusagen machen.» Der FDP-Präsident bekräftigt, dass die Partei für eine Lösung der institutionellen Fragen offen sei. Entscheidend sei, wie diese ausfalle. Zudem soll sie gemäss Burkart nicht in einem abstrakten Rahmenvertrag verankert werden, sondern direkt in den einzelnen Abkommen. «Dass die Personenfreizügigkeit weiterhin das schwierigste Thema sein wird, ist völlig klar.»
Kritischer fällt die Reaktion des SP-Fraktionschefs Roger Nordmann aus: «Es war fahrlässig von Cassis, einfach so nach Brüssel zu reisen, ohne Plan, ohne Auftrag, ohne Position.» Dass die EU die Gelegenheit nutze, die Schweiz gleich wieder unter Druck zu setzen, sei nur logisch. Nordmann zählt in der SP zum rechtsliberalen, EU-freundlichen Flügel, der den Rahmenvertrag deutlich positiver beurteilte als die Gewerkschaften, die stark zum Scheitern beitrugen. Nordmann zeigt sich noch heute überzeugt, dass «mit sachlichen Umsetzungsvorschlägen» durch den Bundesrat mit den Gewerkschaften eine Lösung möglich gewesen wäre.
Nun müsse der Bundesrat die Debatte möglichst rasch vorantreiben und einen Prozess initiieren, der es der Schweiz ermögliche, endlich herauszufinden, was sie wolle. Bern dürfe keinesfalls auf Zeit spielen. «Wenn wir jetzt nicht kooperieren, werden wir keine massgeschneiderte Lösung mehr erhalten, nachdem der Bundesrat unter Anführung des Aussenministers diesen Scherbenhaufen angerichtet hat.»
Die Mitte-Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter hat die Ankündigungen am Montag in Brüssel mitverfolgt, wo sie sich zurzeit als Mitglied einer Delegation der Aussenpolitischen Kommissionen des Parlaments aufhält. Dass die EU die Schweiz sogleich wieder unter Druck setzt, nimmt sie schulterzuckend zur Kenntnis: «Es ist nun tatsächlich an uns, der EU klar und verbindlich zu sagen, was wir wollen und wie weit wir dafür gehen werden.» Sie spricht von einer Wunschliste welche die Schweiz nun erstellen müsse. Der Bundesrat müsse die kurze Zeit nutzen, um der EU im Januar konkrete, pragmatische Vorschläge für das weitere Vorgehen zu unterbreiten.
Schneider-Schneiter plädiert für ein rasches Vorgehen. «Die Wahlen 2023 abzuwarten, ist keine Option.» Geht es nach ihr, soll der Bundesrat der EU auch erneute Verhandlungen über die schwierigen institutionellen Fragen anbieten. «Wir werden nicht darum herumkommen», sagt die Mitte-Politikerin. Sie spricht sich jedoch ebenfalls dafür aus, die Spielregeln als Teil einzelner Abkommen festzulegen und nicht in einem Rahmenvertrag. NZZ, 16. November 2021, S. 1
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