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Kurzinfos März 2011

Brüsseler Kommission startet Vertragsverletzungsverfahren gegen Rom

In den Streit zwischen Bern und Rom über die drohende Diskriminierung von Schweizer Unternehmen im öffentlichen Beschaffungswesen in Italien hat sich die EU-Kommission eingeschaltet. Sie hat am Montag rechtliche Schritte («Vertragsverletzungsverfahren») gegen Italien eingeleitet. Die erste Verfahrensstufe bestand wie üblich darin, dass Italien um Auskunft ersucht wurde. Die italienische Regierung hat nun zwei Monate Zeit zur Übermittlung der geforderten Erklärungen. Italien scheine Schweizer Firmen zu diskriminieren, da diese für die Teilnahme an öffentlichen Ausschreibungen im Gegensatz zu Konkurrenten aus anderen Staaten eine Bewilligung benötigten, hiess es zur Begründung in Kommissionskreisen. Dies könne im Widerspruch stehen zu Verpflichtungen aus dem bilateralen Abkommen Schweiz - EU über das öffentliche Beschaffungswesen und dem Agreement on Government Procurement (GPA) der Welthandelsorganisation.

Laut Auskünften des Schweizer Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) und der Schweizer Mission in Brüssel verlangt Italien auf Basis eines Gesetzes von Ende Juli 2010, dass Schweizer Anbieter künftig eine Bewilligung zur Bewerbung bei öffentlichen Ausschreibungen beim italienischen Finanzministerium einholen. Sie müssten hierzu zahlreiche firmenspezifische Angaben vor allem auch über ihre Organe liefern. Die Massnahme trete am 27. März 2011 in Kraft und treffe Unternehmen aus Ländern, die auf italienischen schwarzen Listen stünden. Italien führt die Schweiz als Steuerparadies auf einer solchen Liste.

Aus Schweizer Sicht verstosse die Massnahme gegen Nichtdiskriminierungs-Verpflichtungen im GPA und im bilateralen Abkommen Schweiz - EU über das öffentliche Beschaffungswesen, hielt das Seco weiter fest. Die Schweiz sei seit Anfang Juni 2010 über die Erarbeitung der Gesetzesnovelle im Bild und habe in der Angelegenheit zahlreiche Kontakte mit Italien und der EU-Kommission gehabt, auch auf Ministerebene.

Die Kommission hat ihren Vorstoss den Medien nicht angekündigt, was in diesem frühen Stadium des Verfahrens nicht ungewöhnlich ist. Ans Licht kam er durch einschlägige Berichte des Tessiner Radios und Fernsehens.

Vertragsverletzungsverfahren gegen Mitgliedstaaten, bei denen es in der Regel um die Verletzung oder die unbefriedigende Umsetzung von EU-Recht geht, sind sehr häufig; am Montag hat Brüssel allein gegen Italien sieben neue Prozeduren eingeleitet. Sie laufen über drei Stufen. Wenn ein Mitgliedstaat in deren Verlauf weder die Brüsseler Einwände ausräumen kann noch mit Korrekturen auf sie eingeht, kann ihn die Kommission im dritten Schritt beim Gerichtshof der EU verklagen. Vom ersten Auskunftsersuchen bis zu einer Verurteilung kann es Jahre dauern. Selten ist, dass es dabei um bilaterale Abkommen mit der Schweiz geht: Letzten September hat die Kommission Griechenland in der zweiten Stufe eines solchen Verfahrens zur Änderung seiner Steuervorschriften aufgefordert, weil Athen in Verletzung des Zinsbesteuerungsabkommens Schweiz - EU eine Quellensteuer von 10% auf Dividenden erhebt, die griechische Tochtergesellschaften an eine Schweizer Mutter zahlen. NZZ, 18. März 2011



Bilaterales Hin und Her

Im vergangenen Sommer 2010 führte die Schweiz eine heftige und irrational anmutende Debatte über ihren Platz in Europa. CVP-Präsident Christophe Darbellay sprach sich für einen EWR «light» aus. SVP-Vizepräsident Christoph Blocher entwarf eine Europapolitik, die ohne Verträge zwischen der Schweiz und der EU auskommt. Avenir Suisse, die Denkfabrik der Wirtschaft, thematisierte den EU-Beitritt (davon ist sie unter neuer Führung wieder abgekommen). Das Strohfeuer erlosch nach wenigen Wochen, als die Parteien mit der Vorbereitung des Wahlkampfs begannen. Sie überliessen das Thema den Technokraten, die in Arbeitsgruppen um Antworten auf die immer resoluter vorgetragenen Forderungen aus Brüssel rangen. Demnach soll das EU-Recht durchgehend die Grundlage künftiger Verträge sein (das ist heute schon teilweise der Fall). Weiter verlangt die EU eine beschleunigte Übernahme neuen EU-Rechts durch die Schweiz, die Übernahme neuer Rechtsprechung, eine Überwachungs- sowie eine Gerichtsinstanz.

Der Bundesrat beschloss im Januar 2011, der EU einen «gesamtheitlichen und koordinierten Ansatz» vorzuschlagen, der sektorielle Dossiers, Steuerpolitik und Institutionen umfasst. Kommissionspräsident José Manuel Barroso akzeptierte am 8. Februar, Ende März wollten beide Seiten das konkrete Vorgehen festlegen. Inzwischen mehrten sich die Anzeichen, dass die EU-Kommission nicht mehr gewillt ist, sich an diese Abmachung zu halten. Entgegen der Vereinbarung soll nun zuerst über die institutionellen Mechanismen und dann über konkrete Dossiers verhandelt werden. Unklar ist, ob man in Brüssel wirklich glaubt, die Stimmberechtigten in der Schweiz würden ein Rahmenabkommen ohne Inhalt genehmigen. Die EU stellt jedenfalls das Treffen Ende März 11 in Frage. Dahinter stehen taktische Motive, es ist aber auch Ausdruck einer generellen Verhärtung.

Auf den Verhandlungstisch gehören nach Ansicht des Bundesrats erstens sektorielle Dossiers (Strom, Agrarfreihandel, Chemikaliensicherheit usw.), zweitens die institutionellen Forderungen der EU. Ob der «gesamtheitliche und koordinierte Ansatz» drittens auch auf die Steuerpolitik ausgedehnt werden soll, ist umstritten. Die Wirtschaftsverbände lehnen formelle Verhandlungen über die Unternehmensbesteuerung kategorisch ab. Sie befürchten, dass damit der Anfang vom Ende der Steuerautonomie eingeläutet würde, und favorisieren die Form eines «Dialogs», um mit der EU über Steuerfragen zu sprechen. Parallel dazu will die Wirtschaft das Steuersystem so umbauen, dass es wettbewerbsfähiger und gleichzeitig europakompatibler wird.

Die Forderungen der EU gehen weit. Würden sie alle akzeptiert, käme dies faktisch einem EWR-Beitritt gleich, ohne den Dienstleistungsbereich und ohne Mitgliedschaft in den EWR-Gremien. NZZ, 11. März 2011, S. 23 (s. auch NZZ, 12. März 2011, Die Crux mit der Tagesordnung, S. 15§)


EU-Fischereipraktiken vor Westafrika am Pranger

Beim zehnten Weltsozialforum im Februar 2011 in Dakar haben westafrikanische Kleinfischer zusammen mit dem Evangelischen Entwicklungsdienst (EED) die EU-Fischereipraktiken in afrikanischen Kiistengewassern kritisiert. Well die EU-Meere immer stärker überfischt sind, gehen Fischereiunternehmen "Partnerschaften" mit westafrikanischen Fischern ein, über die sie Lizenzen für die eigentlich den Anrainern vorbehaltenen Küstengewasser erwerben. Oftmals sind dem EED zufolge die westafrikanischen Partner dabei nur Strohmänner. Hauptkritikpunkt ist daher die fehlende Transparenz der Partnerverträge. Diese Praxis wird analog zum Land-Diebstahl durch Multis auch als Sea-Grabbing bezeichnet. Die Folgen sind laut einer vom EED im Rahmen des Weltsozialforums veroffentlichten Studie für die lokalen Kleinfischer "verheerend". www.eed.de, umwelt aktuell, März 2011, S. 29


Ein EU-Paket zur Reform der Währungsunion

End März einigten sich die EU-Minister auf eine „Reform“ der Währungsunion. Ein Kernstück der „Reform“ bildet der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM). Er wird Mitte 2013 den derzeitigen temporären Euro-Rettungsschirm, der in der Krise eiligst aufgespannt worden ist, als dauerhaftes Instrument ablösen. Eine Änderung des Lissabon-Vertrags («Grundgesetz» der EU) wird hierzu eine Rechtsgrundlage schaffen. Wie der bestehende Schirm kann der ESM Euro-Staaten in Not unter strikter Konditionalität mit Krediten (ausnahmsweise auch mit dem Kauf ihrer Staatsanleihen auf dem Primärmarkt) unter die Arme greifen, sofern die Stabilität der Euro-Zone als Ganzes gefährdet ist. Das Geld hierfür besorgt er sich auf dem Markt. Er wird eine Kreditvergabe-Kapazität von 500 Mrd. € haben. Hinzu kommen Kredite des Internationalen Währungsfonds, der sich an jeder Hilfsaktion beteiligen soll, und allfällige freiwillige Beiträge anderer EU-Staaten.

Der ESM wird von den Euro-Staaten mit einem Eigenkapital von 700 Mrd. € ausgestattet. Hiervon zahlen sie 80 Mrd. € ein, die restlichen 620 Mrd. € sind abrufbares Kapital und Bürgschaften. Die Beiträge der einzelnen Staaten richten sich nach ihrem Anteil am Kapital der Europäischen Zentralbank, mit einem Entlastungsfaktor für ärmere Staaten. Nachverhandelt wurden die Einzahlungsmodalitäten. Der wichtigste Unterschied zum derzeitigen Rettungsschirm wird der Einbezug des privaten Sektors sein: Wird ein Staat als insolvent beurteilt, muss er mit seinen Gläubigern über eine Umschuldung (Verlängerung der Laufzeit, Stundung von Zinsen, teilweiser Forderungsverzicht u. Ä.) verhandeln, um ESM-Hilfe beantragen zu können. Zur Erleichterung solcher Verhandlungen werden ab Juli 2013 alle neuen, von Euro-Staaten begebenen Anleihen mit mehr als einjähriger Laufzeit eine «collective action clause» enthalten. Die Gläubigerbeteiligung soll die vom ESM ausgehenden falschen Anreize mildern: Wissen Anleger, dass man sie zur Kasse bitten kann, werden sie vorsichtiger und werden von Staaten mit unsolider Finanzpolitik höhere Zinsen fordern.

Als Gegengewicht zum Solidaritätsversprechen des ESM werden Instrumente gestärkt bzw. eingeführt, die die EU-Staaten und vor allem die Euro-Staaten zu einer disziplinierteren Finanz- und Wirtschaftspolitik anhalten sollen. So haben sich die Staaten im Grundsatz auf ein Gesetzgebungspaket zur Stärkung des Stabilitätspakts verständigt, der Leitplanken für die nationale Haushaltpolitik vorgibt. Noch muss allerdings das EU-Parlament zustimmen. Neben den Staatsdefiziten wird künftig auch die Staatsverschuldung stärker berücksichtigt: Staaten, deren Schuldenstand den Referenzwert von 60% des Bruttoinlandprodukts überschreitet, sollen die Differenz zwischen dem tatsächlichen Stand und dem Referenzwert um einen Zwanzigstel pro Jahr reduzieren. Bei einer Verletzung des Stabilitätspakts durch Euro-Staaten werden zudem Sanktionen früher und schneller möglich als bisher, und sie sollen automatischer erfolgen: Neue Beschlussverfahren erschweren den Staaten die Zurückweisung von Sanktionsempfehlungen der EU-Kommission.

Das Gesetzespaket führt zudem neu die Überwachung makroökonomischer Ungleichgewichte anhand von Kriterien wie der Leistungsbilanz ein. Die Staats- und Regierungschefs bekennen sich in der Gipfelerklärung zur Sanierung ihrer Haushalte, zum Abbau der Arbeitslosigkeit durch Arbeitsmarktreformen und zu wachstumsfördernden Reformen. In einem nächsten Schritt sollen die Mitgliedstaaten konkrete Massnahmen hierzu definieren und in ihre nationalen Stabilitäts- bzw. Konvergenzprogramme (mittelfristige Haushaltsplanung) und nationalen Reformprogramme übernehmen. Diese Programme, die der EU vorzulegen sind, bilden auch die Basis für die Erstellung der nationalen Budgets 2012. Die Übung soll künftig jedes Jahr im ersten («europäischen») Semester stattfinden und sicherstellen, dass die EU bei Fehlentwicklungen frühzeitig die Alarmglocke läuten kann. Zum Gesamtpaket gehört weiter ein «Euro-Plus-Pakt» (bisher in der Diskussion als Pakt für den Euro). In dessen Rahmen verpflichten sich die Staaten zu Reformen zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit, zum Beispiel zur Anpassung der Rentensysteme an die demografische Entwicklung. Dabei geht es um Bereiche, die vornehmlich in nationaler Kompetenz liegen. Die Ziele werden gemeinsam definiert, die konkrete Umsetzung beschliesst jeder Staat für sich. Einmal pro Jahr treffen sich die Staats- und Regierungschefs zur Überprüfung und zur Vereinbarung neuer Schritte; Sanktionen bei Nichterfüllung sind nicht vorgesehen. Während die Teilnahme für die Euro-Staaten obligatorisch ist, können andere EU-Staaten freiwillig mitmachen. Bulgarien, Dänemark, Lettland, Litauen, Polen und Rumänien haben ihr Mittun zugesagt.

Manche der beschriebenen Beschlüsse bedürfen noch der Ratifizierung auf nationaler Ebene. Zudem sind ein paar Fragen offengeblieben. So ist die Aufstockung der tatsächlichen Kreditvergabe-Kapazität der Europäischen Finanzstabilitätsfazilität (EFSF) von derzeit rund 250 Mrd. € auf 440 Mrd. € noch nicht ganz gelöst. Die EFSF ist der wichtigste Teil des derzeitigen Rettungsschirms. Zwar wurde ihre Stärkung im Grundsatz längst vereinbart. Doch den Beschluss über die konkreten Modalitäten hiefür haben die Euro-Staaten aus Rücksicht auf die bevorstehenden Wahlen in Finnland aufgeschoben. Laut dem EU-Rats-Präsidenten Van Rompuy wird die Aufstockung im Juni bereitstehen. Ebenfalls noch ungelöst ist ein Streit mit Irland über dessen Wunsch nach günstigeren Konditionen für die von der EFSF bezogenen Kredite bzw. über die Gegenleistung hierfür. Weiteren Diskussionsbedarf könnten die in Kürze erwarteten Resultate eines nationalen irischen Banken-Stresstests ergeben.

Unklar bleibt vorerst, ob Portugal als dritter Euro-Staat nach Griechenland und Irland Hilfe benötigen wird. Die derzeitige politische Krise Portugals hat den Gipfel intensiv beschäftigt, doch sagte der Chef der Euro-Gruppe, der Luxemburger Premier Juncker, am Freitag, es deute nichts darauf hin, dass Lissabon in Kürze einen Antrag auf Hilfe stellen werde. Merkel rief alle Kräfte in Portugal zur Einhaltung der Haushaltsziele auf. Auch die Opposition müsse zeigen, wie sie diese erreichen wolle. NZZ, 26. März 2011, S. 29


Französisches Faustrecht für die Iren

Wie ungezogene Kinder werden die Iren dieser Tage von ihren EU-Partnern behandelt. Sie müssen auch weiterhin Strafzinsen von 6% auf ihren Euro-Darlehen bezahlen, während die Griechen eine Ermässigung und eine Fristerstreckung erhalten. Die Iren hätten eben noch nicht alle «Bedingungen» für eine mildere Behandlung erfüllt, erläutert Frau Merkel selbstgewiss, während Monsieur Sarkozy ein irisches Entgegenkommen bei der Körperschaftssteuer verlangt. Im Nachhinein erhalten die irischen Gegner des Lissabonner Reformvertrags recht: Sie argwöhnten, die irische Körperschaftssteuer liege im Fadenkreuz der EU. Daher beteuerte die EU vor dem zweiten irischen Referendum feierlich, der Vertrag ändere nichts an Irlands Souveränität über seine (direkten) Steuern. Das ist inzwischen zur Makulatur geworden. Auch das «Memorandum of Understanding» vom letzten Dezember zwischen der irischen Regierung und ihren neuen internationalen Kreditgebern erwähnt die Körperschaftssteuer nicht. Pacta sunt servanda? Jetzt herrscht Faustrecht. Vergeblich wies der neue irische Premierminister, Enda Kenny, seinen Kritiker Sarkozy darauf hin, dass die effektive Unternehmensbesteuerung in Frankreich bloss 8,2% betrage, wie eine Untersuchung von PricewaterhouseCoopers und der Weltbank nachwies. Er hätte hinzufügen können, dass die effektive Besteuerung in Luxemburg 4,1%, in Belgien 4,8% und in der Schweiz 8,9% beträgt. In Irland dagegen, wo der nominale Satz bei 12,5% liegt, werden effektiv 11,9% abgeschöpft. NZZ, 15. März 2011, S. 26

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