Vor nicht allzu langer Zeit rief die ganze Welt nach Corona-Tests. In der Schweiz dominierten Tests von Roche. Doch auch das Schweizer Medtech-Unternehmen Abionic wollte einen Schnelltest anbieten – und scheiterte. Nicht an den Kunden, sondern an der Zulassung. Der Test blieb im Bürokratiegeflecht der EU hängen.
Das ist nicht nur ein Problem für die Unternehmen, sondern für die Schweiz insgesamt. Die EU ist der wichtigste Absatzmarkt für Schweizer Medtech-Hersteller. Aber zugleich sind in der Schweiz fast nur Medizinprodukte in Umlauf, die in der EU zugelassen werden. Stockt die Zulassung in der EU, kann es handkehrum für die inländische Versorgung problematisch werden.
Das ist jetzt der Fall. Es geht um Material für Operationen, Katheter, Herzschrittmacher, Implantate, Röntgengeräte und vieles mehr. Die Medizintechnik-Hersteller hätten ihr Produktsortiment in Europa durchschnittlich um 15 Prozent reduziert, sagt der Branchenverband Swiss Medtech. Und über 1000 der rund 5000 ausländischen Hersteller hätten die Lieferung in die Schweiz eingestellt. Die Versorgung sei nicht nachhaltig sichergestellt, heisst es warnend.
Die Schweiz sitzt zwischen Stuhl und Bank: Seit sich Brüssel und Bern über das EU-Rahmenabkommen zerstritten haben, will die EU keine Zulassungen aus der Schweiz mehr anerkennen. Schweizer Firmen müssen für das begehrte europäische CE-Produktsiegel bei Prüfstellen in der EU vorstellig werden. Doch dort gibt es massive Probleme – auch für EU-Unternehmen. Als Folge sinkt die Auswahl an Medizinprodukten in Europa im Allgemeinen und in der Schweiz.
Dass die EU-Zulassung solch eine Hürde geworden ist, hat zwei Gründe: Erstens ist dieser Prüfprozess in der EU vollkommen überlastet. Die neue Verordnung für Medizinprodukte, die seit dem Jahr 2021 anzuwenden ist, schreibt nämlich vor, dass auch alle existierenden Produkte in der EU neu zugelassen werden. Gleichzeitig sind weniger Prüfstellen akkreditiert als früher. Das Ergebnis ist ein grosser Bürokratie- und Teststau.
Zweitens wurde die Prüfung mit der neuen EU-Verordnung oftmals aufwendiger – zum Beispiel wie bei Abionic für die In-vitro-Diagnostik, bei der Proben analysiert werden: Im alten Regime konnten die Unternehmen 80 Prozent der entwickelten Produkte selbst zulassen. Jetzt müssen mehr als 80 Prozent von Prüfstellen in der EU durchleuchtet werden.
Um den Zulassungsengpass zu beseitigen, fordern Wirtschaftsvertreter eine Zäsur: Die Schweiz solle sich auch für Medizintechnik öffnen, die in anderen Ländern als jenen der EU zugelassen worden sei – primär in den USA. Die Vereinigten Staaten sind neben der EU der zweite grosse Raum für Medtech-Zulassungen. Was dort rechtskonform in Umlauf sei, brauche kein zweites vollwertiges Verfahren in der Schweiz, argumentiert Swiss Medtech. Australien und Israel machten das bereits so.
Eine entsprechende Motion wurde im vergangenen November vom Parlament angenommen und liegt jetzt beim Bundesrat. Dieser hat bis Ende 2024 Zeit, sich mit dem Dossier zu befassen – und nimmt sich der Sache aus Sicht der Verfechter zu zögerlich an. Die Dringlichkeit gebiete es, dass der Bundesrat einen Gang hochschalte und den Auftrag des Parlaments zügig umsetze, lässt Swiss Medtech mitteilen.
Die Schweiz muss die Hälfte ihres Bedarfs von rund 500 000 unterschiedlichen Medizinprodukten importieren. Theoretisch könnten die Produkte zwar auch nur in der Schweiz zugelassen und vermarktet werden. Doch der Markt ist so klein, dass die allermeisten Firmen derzeit gleich eine Akkreditierung in der EU möchten. Schliesslich sind die Produktanforderungen ohnehin identisch.
Eine Divergenz zu EU-Regeln würde noch mehr Aufwand bedeuten und den Schweizer Markt noch unattraktiver machen. Im Nachteil ist er ohnehin. Seit dem Zerwürfnis über das Rahmenabkommen müssen ausländische Anbieter hierzulande eine Niederlassung eröffnen, um ein in der EU zugelassenes Produkt zu vertreiben. Umgekehrt ist dies für Schweizer Firmen in der EU zwar auch der Fall, aber dort lockt der grössere Markt.
Ziel einer Öffnung gegenüber amerikanischen Zulassungen ist auch, Schweizer Patienten den Zugang zu neuen Produkten zu ermöglichen. Denn Neuheiten werden aufgrund der Probleme in Europa immer öfter zuerst in den USA zugelassen, nicht in der EU. Die Boston Consulting Group stellte das bereits vergangenes Jahr in einer Erhebung fest: Von jenen Firmen, die ein Produkt in der EU zugelassen hatten, gaben 89 Prozent an, dass sie Amerika bevorzugen würden. Früher galt es als Konsens, den Prozess in Europa zu starten – wo die Regulierung als geradliniger galt. Diese Zeiten sind vorbei.
«Unternehmen prüfen, ob sie zuerst nach Amerika statt nach Europa gehen. Dieser Trend wird zunehmen», sagt auch Iwan Märki von Abionic. Für Abionic könnten die USA ebenfalls die erste Wahl werden. Denn in Europa dauere es nun 12 bis 18 Monate, um ein Medizinprodukt zuzulassen. Die USA brauchen normalerweise 90 Tage, so Märki. Ausserdem gilt die dortige Food and Drug Administration (FDA) als offener für digitale Innovationen.
Besonders für kleine oder junge Unternehmen werden die USA attraktiver. Zwar können Firmen mit mehreren etablierten Produktreihen mit der langen Wartezeit in Europa jonglieren. Aber für ein junges Unternehmen mit seinem ersten Produkt sei es fast unmöglich, die 12 bis 18 Monate Wartezeit zu überleben, erklärt Iwan Märki. Denn in dieser Zeit generiert es keine Einnahmen. NZZ, 15. August 2023, S. 25