In Strassburg staut sich in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats Unmut gegenüber der EU auf. Die Abgeordneten aus den 47 Mitgliedländern wehren sich dagegen, dass Brüssel auf dem ureigensten Terrain des Staatenbunds wildert, nämlich demjenigen der Freiheitsrechte. Debattiert wird über einen Antrag des Rechtsausschusses, dessen Sprecher Boris Cilevics (Lettland) fordert, die EU müsse den «Besitzstand des Europarats auf dem Gebiet der Menschenrechte» respektieren.
Stein des Anstosses ist die Grundrechte-Agentur der EU in Wien, die denselben Auftrag hat wie der Europarat, nämlich das Engagement für die Individualrechte der Bürger. Diese Behörden kosten die Steuerzahler viel Geld. Die Wiener Einrichtung verschlingt jährlich 20 Millionen Euro, bezahlt von den 27 EU-Nationen, die auch dem Europarat angehören und dessen 220- Millionen-Budget mitfinanzieren.
Der Streit lenkt den Blick auf die wuchernde EU-Administration. Mittlerweile hat sich innerhalb der EU eine Parallel-Bürokratie von 35 Agenturen und rund 6500 Beschäftigten etabliert, im Brüsseler Budget schlägt dieses über die EU-Länder verteilte Netzwerk mit über 1,5 Milliarden Euro jährlich zu Buche, wie der österreichische EU- Volksvertreter Martin Ehrenhauser errechnet hat. Es gibt Agenturen für alle möglichen Themen. Für die Regierungschefs der EU-Länder ist es wie eine PR-Thophäe, wenn sie eine solche Institution in ihren Staaten ansiedeln können. So erhielt Österreich die Grundrechte-Agentur, die beispielsweise Daten über die Lage der Minderheiten sammelt - was aber der Europarat ebenfalls schon längstens macht.
Cilevics will unnötige Doppelarbeit von Strassburg und Wien unbedingt vermeiden. Die EU habe den Zuständigkeitsbereich der Einrichtung in Österreich erheblich ausgeweitet. Kein Blatt vor den Mund nimmt auch Christoph Strässer, Vizevorsitzender des Strassburger Rechtsausschusses. Der deutsche Abgeordnete kritisiert die EU- Agentur als ebenso teure wie überflüssige Behörde, deren zusätzlicher Nutzen nicht erkennbar sei. Das sei eine unsinnige Konkurrenz bei den Bemühungen des Europarats.
Cilevics verlangt, die Wiener Institution solle mit dem Europarat enger zusammenarbeiten, indem etwa Personal ausgetauscht wird und gemeinsame Konferenzen veranstaltet werden. Strässer plädiert dafür, die Grundrechte-Agentur der EU komplett in den Strassburger Staatenbund zu integrieren. Das Ministerkomitee des Europarats äusserte sich bisher nicht zu diesem Problem. In diesem höchsten Gremium sitzen die 47 Aussenminister der Mitgliednationen, unter ihnen auch die 27 EU-Ressortchefs. Letztere sind für den fragwürdigen Konkurrenzkampf zwischen der Wiener Einrichtung und Strassburg mitverantwortlich. NZZ, 5. Oktober 2010, S. 9