Eurovignette Das EU-Parlament hat am Dienstag, den 7. Juni 2011 an einer Plenarsitzung in Strassburg eine Revision der Euro- vignetten-Richtlinie (Gesetz) von 1999 verabschiedet. Dabei geht es um einen EU-weiten Rahmen für nationale Schwerverkehrsabgaben. Wie bisher bleibt es den Mitgliedstaaten überlassen, ob sie überhaupt solche Gebühren erheben. Tun sie es, müssen sie im Rahmen der EU-Vorgaben bleiben. Die Belastung kann in Form von zeitabhängigen Nutzungsgebühren oder entfernungsabhängigen Mautgebühren erfolgen. Der nun vom Parlament verabschiedete Text ist ein im Vorfeld mit dem Ministerrat ausgehandelter Kompromiss. Die Bestätigung durch den Rat ist deshalb nur noch Formsache; danach haben die EU-Staaten zwei Jahre Zeit zur Umsetzung in nationales Recht.
Die zentrale Änderung gegenüber der geltenden Richtlinie ist die Stärkung des Verursacherprinzips: Künftig düfen die Mitgliedstaaten dem Schwerverkehr neben Infrastrukturkosten innerhalb bestimmterLimiten auch externe Kosten in Zusammenhang mit Luftverschmutzungund Lärm belasten. Zudem können sie die Abgaben imTagesverlauf stärker differenzieren (die Spitzentarife dürfen während bis zu fünf Stunden pro Tag bis zu 175% über dem Durchschnittstarif liegen), um den Verkehr in Stau-ärmere Zeiten zu lenken. Allerdings muss Letzteres ertragsneutral erfolgen: Zuschlage in Stosszeiten sind durch Reduktionen in anderen Zeiten zu kompensieren. In Berggebieten können für die «schmutzigeren» Kategorien von Lastwagen der bereits möglicheAufschlag für Berggebiete und die neuen Gebühren für exteme Kosten kumuliert werden, wobei die zusätzlichen Einnahmen zur Finanziernng vorrangiger transeuropaischer Verkehrsprojekte (TEN-V) im selben Korridor zu verwenden sind.
Der Geltungsbereich der Eurovignetten-Richtlinie wird erweitert: Galt sie bisher nur für dieses TEN-V-Netz, werden neu alle Autobahnen einbezogen.
Der Anwendungsbereich erstreckt sich auf alle Fahrzeuge mit einem Gesamtgewicht von mehr als 3,5 t, doch können die Staaten auch erst ab 12 t ansetzen, wenn sie dies begründen. Zu einem Streit zwischen Parlament und Ministerrat hat die Forderung derAbgeordneten nach einer obligatorischen Zweckbindung für die Gebühreneinnahmen geführt. Der nun erzielte Kompromiss läuft de facto nur auf eine «starke Empfehlung» hinaus, die Einnahmen in einen nachhaltigen Verkehr (und mindestens 15% in die TEN-V) zu investieren.
Die von der EU-Kommission 2008 vorgeschlagene Revision wird dazu führen, dass die Maut für die Strassenbenützung im Durchschnitt um rund 3 bis 4 Cents pro Fahrzeugkilometer erhöht werden kann. Die bis jetzt erhobenen Mauten variieren je nachFahrzeugklasse und Strasse typischerweise zwischen 15 und 25 Cents. Auchmit der Ausweitung bleibt dieEU unter den in der Schweiz mit der leistungsabhängigen Schwerverkehrsabgabe (LSVA) geschaffenen VerhäItnissen. Doch mehr ist in einer EU, zu der neben Alpenstaaten wie Österreich auch periphere, auf günstige Transporte angewiesene Staaten gehören, derzeit nicht zu erreichen. NZZ, 8. Juni 2011, S. 27
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Keine „Unions-Bürgerschaft“ Beim jährlichen Treffen der Delegationen der Schweiz und der EU im Gemischten Ausschuss zur Personenfreizügigkeit galt es im Juni 2011 besondere die Frage zu klären, ob das bilaterale Frejzügigkeitsabkommen von 1999 an die innerhalb der EU mit der Unionsbürger-Richtlinie (Gesetz) 2004 revidierte Rechtslage anzupassen sei. Die EU hatte beim letzten Treffen des Ausschusses vor Jahresfrist einen entsprechenden Wunsch geäussert. Um es vorwegzunehmen: Die Schweizer Antwort lautet Nein. Der Bundesrat habe beschlossen, auf die Aufnahme einschlägiger Verhandlungen zu verzichten. Dies habe man nun der EU kommuniziert, sagte der Schweizer Delegationsleiter Mario Gattiker, stellvertretender Direktor des Bundesamts für Migration, nach der Sitzung vor Schweizer Medien.
Die fragliche EU-Richtlinie regelt die Einreise und den Aufenthalt von EU-Bürgern in andere(n) Mitgliedstaaten. Laut Gattiker anerkennt Bern, dass ihre Übernahme durch die Schweiz einerseits Schweizern den Aufenthalt in EU-Staaten durch einen Abbau von Bürokratie erleichtern würde. Anderseits wären damit aber verschiedene für den Bundesrat problematische Aspekte verbunden. Gattiker verwies unter anderem darauf, dass beim Familiennachzug das Erfordernis einer angemessenen Wohnung aufgegeben werden müsste, zusätzliche Personengruppen Ansprüche auf Sozialhilfe hätten und die Schwelle zur Ausweisung von Kriminellen heraufgesetzt würde. Bern sei nicht zur Übernahme der fraglichen Richtlinie verpflichtet. Für die Schweiz gehe es um ein sensibles Thema, fügte der Delegationschef unter Verweis auf die innenpolitische Debatte über Freizügigkeit und Zuwanderung an.
Wie nach dem Treffen aus der EU-Kommission zu hören war, hat die EU-Delegation den Standpunkt der Schweiz zur Kenntnis genommen. Man habe nie formell die Übernahme der Richtlinie gefordert, es gebe hierzu keinen Streit. Generell zeige das schwerfällige Format des Gemischten Ausschusses indessen, wie problematisch die statischen bilateralen Abkommen seien und wie wichtig eine dynamische Anpassung an Änderungen des EU-Rechts wäre.
Nicht näher gekommen sind sich die beiden Seiten im Streit über die Anwendung der flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit durch die Schweiz. Die EU hält einzelne dieser Massnahmen, darunter die achttägige Voranmeldepflicht für die grenzüberschreitende Erbringung von Dienstleistungen, für nicht zielführend und unverhältnismässig. Die Schweiz hingegen hat sie erneut verteidigt.
Sie seien mit dem Abkommen vereinbar, für die politische Akzeptanz wichtig und wegen der hohen Verstossquoten nötig, sagte Peter Gasser vom Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco). Die Zahl der in die Schweiz entsandten Arbeitnehmer aus EU-Staaten sei 2010 gegenüber dem Vorjahr um 20 Prozent auf rund 60000 gestiegen, jene der selbständigen Dienstleistungsanbieter um 15 Prozent auf knapp 15 000. Dies zeige, dass die Regel die Erbringung von Dienstleistungen nicht verhindere, sagte Gasser. NZZ, 15. Juni 2011, S. 11
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Seldwyla in Bern: Ständerat gegen Rückzug des inexistenten EU-Beitrittsgesuchs Der Bundesrat soll das EU-Beitrittsgesuch nicht zurückziehen. Der Ständerat hat zum wiederholten Mal einen Vorstoss abgelehnt, der einen Rückzug des eingefrorenen Gesuchs aus dem Jahr 1992 forderte. Der Entscheid gegen die Motion von Maximilian Reimann (Argau, svp.) fiel deutlich mit 33 zu 8 Stimmen.
Sowohl die Wirtschaft als auch der Bundesrat seien für eine Fortsetzung des bilateralen Weges, sagte Reimann. Zudem habe ein EU-Beitritt derzeit in der Bevölkerung absolut keine Chance. Deshalb dränge sich eine Klärung der Position auf.
«Das Parlament muss jetzt endlich die Hintertür zum EU-Beitritt schliessen», forderte Reimann im Rahmen der ausserordentlichen Ständeratsdebatte zur Europapolitik. Gewünscht worden war die Debatte von der SVP. Ausser der Motion Reimann, die nun erledigt ist, standen keine weiteren Vorstösse zur Diskussion.
«Wir gewinnen mit einem Rückzug null und nichts und sollten deshalb mit Blick auf die laufenden Verhandlungen - etwa zum Stromabkommen - Irritationen vermeiden», begründete Ivo Bischofberger (Appenzell Innerrhoden, cvp.) seine Ablehnung der Motion.
Und Alain Berset (Freiburg, sp.) kritisierte Reimann dafür, dass der Ständerat nach ähnlichen Vorstössen der letzten Jahre bereits wieder über die Frage debattieren muss. Er hätte es bevorzugt, in dieser Debatte über konkrete Probleme in der Europapolitik zu reden, sagte Berset und verwies dabei etwa auf die Forderung der SP nach schärferen flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit.
Unterstützt wurde Reimann fast ausschliesslich von Parteikollegen. In Brüssel werde die Haltung der Schweiz so aufgefasst, dass der Bundesrat eigentlich in die EU wolle, aber aus innenpolitischen Gründen dies zurzeit nicht bewerkstelligen könne, sagte Christoffel Brändli (Graubünden, svp.). Es gelte nun endlich Klarheit zu schaffen. Andernfalls müsse man vielleicht zu dieser Frage einmal das Stimmvolk befragen.
Sukkurs erhielt Reimann diesmal auch vom Tessiner Ständerat Filippo Lombardi (Tessin, cvp.). Er begründete seinen Gesinnungswandel in der Frage des Beitrittsgesuchs mit den Druckversuchen der EU und einzelner EU-Staaten auf die Schweiz.
Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey wies darauf hin, dass die Schweiz schon nur aus formalen Gründen ein neues Beitrittsgesuch einreichen müsste, falls sie plötzlich doch einen Beitritt anstreben würde. Denn das Gesuch aus dem Jahr 1992 sei an die Europäischen Gemeinschaften gerichtet gewesen und nicht an die heutige EU.
Im Übrigen wiederholte sie die vom Bundesrat seit langem vorgebrachten Argumente, dass ein Rückzug des Gesuches ausser Irritationen in Brüssel keinen Nutzen bringe. NZZ, 6. Juni 2011.
Kommentar: Endlose Posse um angebliches EU-Beitrittsgesuch der Schweiz
Es ist unglaublich aber wahr. Kantonsparlamente, die eidgenössischen Räte, Parteivorstände und Redaktoren befassen sich regelmässig mit einem EU-Beitrittsgesuch der Schweiz in Brüssel, das es gar nicht gibt. Diese Posse, die teilweise auch Steuergelder verschleudert, muss endlich aufhören! Der Tatsache, dass in Brüssel kein EU-Beitrittsgesuch liegt, wurde im Europa-Magazin schon im November 2005 dargelegt und müsste eigentlich bekannt sein. Trotzdem werden um die Mär vom Beitrittsgesuch weiter muntere Spiegelfechtereien ausgetragen.
Die Schweiz hat nie ein EU-Beitrittsgesuch gestellt, sondern ein Gesuch um Aufnahme von Beitrittsverhandlungen. Nach dem Nein zum EWR hat die CH-Regierung nach Brüssel gemeldet, man möchte vorerst nun doch keine Beitrittsverhandlungen. Die Regierung sprach zwar damals davon, die Beitrittsgesuch sei nur eingefroren aber nicht zurückgezogen.
Juristisch gesehen war das sinnloses Geschwätz. "Einfrieren" ist kein juristischer Fachausdruck, kein Ausdruck des internationalen Rechts. Was wurde nach dem EWR-Nein bezüglich des EU-Beitritts-Gesuches juristisch genau gemacht? Und worin besteht der juristische Unterschied zwischen dieser Aktion nach dem EWR-Nein und einem eigentlichen Rückzug des Gesuchs? Diese Fragen stellten wir bereits 2005 dem Integrationsbüro und erhielten die folgende Antwort:
"Der Bundesrat hat in einer Erklärung vom 13. Januar 1993 dargelegt, dass die Schweiz auf die Eröffnung der Beitrittsverhandlungen auf weiteres verzichtet. Entsprechend wurde die EU im Rahmen des Comité mixte zum Freihandelsabkommen durch den schweizerischen Vertreter informiert. Der EU-Rat hat seinerseits diese Entscheidung zur Kenntnis genommen: In einer Konklusion des EU-Rats vom 8./9. November 1993 nimmt dieser Kenntnis davon, dass die Schweizer Regierung bis auf weiteres die bilateralen Beziehungen zur Gemeinschaft weiterzuentwickeln wünscht.
Bei dem sogenannten 'Beitrittsgesuch' handelt es sich um einen Brief, in welchem die Schweiz im Mai 1992 die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen wünschte. Dieser Brief ist kein Rechtsakt, weshalb ein Rückzug in einem juristischen Sinne auch nicht möglich ist. Sollte die Schweiz dereinst die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen wünschen, müsste ohnehin ein neues Gesuch gestellt werden."
Es wird also klar: in Brüssel liegt kein EU-Beitrittsgesuch, es liegt dort auch keine „eingefrorenes EU-Beitrittsgesuch“. In Brüssel liegt eventuell in irgend einem Archiv ein Gesuch um Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen aus dem Jahre 1992 und ein zweites Schreiben, das ausdrückt, dass man vorerst keine Beitrittsverhandlungen wünscht. Möchte man eines Tages wieder Beitrittsverhandlungen stellen, müsste man ein neues Gesuch stellen – wie sonst sollte die EU sonst wissen, dass die „Schweiz“ solche Verhandlungen wünscht. Das „Gesuch um Aufnahme von Beitrittsverhandlungen“ von 1992 ist somit höchstens von historischem Interesse, juristisch ist es völlig bedeutungslos und es gibt hier nichts zurückzuziehen.
Muss man sich über den Geisteszustand jener, die regelmässig über Rückzug des nicht-existenten EU-Beitrittsgesuches schreiben und streiten Sorgen machen? Eigentlich schon. Es geht beiden Seiten allerdings um Taktik. Die SVP kann durch die Anträge auf „Rückzug“ den nicht SVP-Teil der „Politeliten“, als EU-Freunde und Gegner der Unabhängigkeit der Schweiz darstellen. Was die Gegner des „Rückzugs“ genau bezwecken, ist schwieriger zu verstehen. Offenbar glauben Sie von den Angriffen der SVP politisch profitieren zu können. Der Bundesrat und die Parlamente wollen eventuell in EU-philen Bevölkerungsschichten den Eindruck erwecken, man halte sich alle Optionen offen. Dadurch erhofft man sich deren Untersstützung bei den bilateralen Verträgen. Wie dem auch sei – das Beispiel zeigt, wie zweiseitiges Interesse an einer Posse diese am Leben erhält und dass beide Seiten die Mehrheit der Bevölkerung für völlig vertrottelt hält.
Ein neues Mosaik zur Posse trug Bundesrätin Micheline Calmy-Rey im Juni 2011 bei: sie wies darauf hin, dass das „Beitrittgsgesuch“ gegenstandslos geworden sei, weil es an die Europäischen Gemeinschaften gerichtet gewesen sei und nicht an die heutige EU. Die Argumentation ist juristisch unhaltbar (s. z.B. Freihandelsabkommen von 1972, das auch von der EU weitergeführt wird, ohne dass neue Verträge unterschrieben wurden). Es handelt sich aber um einen Hinweis darauf, dass für die Gegner des „Rückzugs“ die Posse an Bedeutung verliert: sie fangen an, sich von dieser zu verabschieden, tun es aber schrittweise, vermutlich um ihr bisheriges absurdes Verhalten nicht blosszustellen.
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