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Kurzinfos Juli 2010

Der EU-kompatible Schweinetrog

Vor knapp 10 Jahren gingen Bilder von Bergen brennender Kadaver um die Welt. In Europa war die Maul- und Klauenseuche ausgebrochen. Hunderttausende von Schafen, Rindern, Schweinen und Ziegen mussten vernichtet werden, von insgesamt über 4 Millionen Tieren war die Rede. Entsprechend gross war der wirtschaftliche Schaden. Die Schweiz blieb zwar von der Seuche selbst verschont, nicht aber von der politischen Nachbearbeitung. Die EU erliess nach dieser Seuchenkatastrophe nämlich ein Verbot für das Verfüttern der sogenannten Schweinesuppe, also jenen Gemisches von Speiseabfällen aus Gastronomie und Handel, welches - ökonomisch und ökologisch durchaus sinnvoll- traditionellerweise im Schweinetrog landete. Für einige Mitgliedstaaten - darunter Deutschland - galt bis 2006 noch eine Übergangsfrist. Seither landen in der EU Speiseabfälle nicht mehr im Tierfutter, sondern in Biogas-Anlagen.

Was die EU verbietet, ist auch für die Schweiz von Relevanz. Das gilt auch insbesondere für den Veterinärbereich. Denn die Schweiz hat im Rahmen der bilateralen Abkommen mit der EU die grenztierärztlichen Kontrollen abgeschafft. Ziel ist es, den Handel mit Fleisch und den Tierverkehr zu erleichtern: Damit verpflichtete sich die Schweiz aber auch, Tierseuchen in gleicher Weise vorzubeugen und sie zu bekämpfen wie die EU. Das heisst folglich, dass auch in der Schweiz die Schweinesuppe nicht mehr verfüttert werden darf. Die Schweiz konnte mit der EU eine Übergangsfrist bis zum 1. Juli 2011 aushandeln. Danach muss das Verbot aber nachvollzogen werden, wenn die Schweiz keine Nachteile im Warenaustausch mit der EU kassieren will.

Das geplante Verbot passt nicht allen Politikern. Marcel Scherer, Zuger SVP- Nationalrat und Schweinehalter, wehrte sich schon im Jahr 2006 mit einer Motion gegen das Verbot. Der Vorstoss birgt ein gewisses öffentlichkeitswirksames Potenzial, und der Motionär dürfte damit viele Sympathien gewinnen können. Denn grundsätzlich ist die Verfütterung von Speiseabfällen an Schweine sinnvoll. Bekommen die Schweine das für sie notwendige Eiweiss über Speisereste, muss weniger Soja verfüttert werden, das die Schweiz im grossen Stil in Brasilien auf ehemaligem Urwaldboden anbauen lässt.

Doch der Preis für einen Alleingang im Falle der Schweinesuppe wäre laut Marcel Falk, Sprecher beim Bundesamt für Veterinärwesen, hoch. Wie Falk sagt, drohen bei einem solchen Alleingang drastische Einschränkungen beim EU- Marktzugang. Daran kann die Schweizer Landwirtschaft kein Interesse haben. Insbesondere die Schweineproduzenten setzen auf den Export in die EU und gehören deshalb auch zu jenen wenigen landwirtschaftlichen Organisationen, die einem Agrarfreihandelsabkommen mit der EU wohlwollend gegenüberstehen. So ist der Verband der Schweineproduzenten, Suisseporcs, Mitglied in der Interessengemeinschaft Agrarstandort Schweiz, welche sich für das Freihandelsabkommen mit der EU einsetzt. Kommt dazu, dass die Speiseabfälle heute nur noch einen geringen Anteil bei der Fütterung ausmachen. Lediglich 5 Prozent der Schweinehalter würden sie heute noch einsetzen, sagt Falk, und auch hier machten die Speiseabfälle nur einen Teil der Fütterung aus.

Diese Überlegungen brachten den Bundesrat dazu, dem Parlament zu beantragen, die Motion Scherer abzuschreiben. Diesem Antrag ist der Nationalrat nun aber in der vergangenen Session nicht gefolgt und hat beschlossen, die Motion weiter zu verfolgen.

Vielleicht habe die Verwaltung das Parlament zu wenig gut über die Konsequenzen eines Alleingangs informiert, meint Falk selbstkritisch. Dass die EU in dieser Sache der Schweiz entgegenkommen könnte, hält er für unwahrscheinlich. Die EU habe der Schweiz schon in früheren Verhandlungen signalisiert, dass aus ihrer Sicht selbst eine technologisch hochstehende Herstellung der Schweinesuppe nicht die gleiche Sicherheit böte wie ein Verbot. In der EU selbst gibt es laut Falk keine Bestrebungen, die Schweinesuppe wieder zuzulassen. Ein Grund besteht darin, dass die ehemaligen Herstellungsbetriebe längst auf die Biogas-Produktion umgestellt haben. Und die Futtermittelproblematik rund um die brasilianische Soja scheint die politischen Gemüter derzeit (noch) nicht wesentlich zu bewegen. NZZ, 6. Juli 2010, S. 10



Soll die Schweiz in der EU unverständlich mitreden?

Nachdem der Think-Tank Avenir Suisse dargelegt hat, der Beitritt der Schweiz zur EU sei als Alternative zu einem zunehmend enger werdenden bilateralen Weg zu sondieren, rückt das Motto «Beitreten, um mitbestimmen zu können» wieder ins Zentrum etlicher Debatten. Das Argument, die Schweiz würde sich als Teil des grossen EU-Gebildes besser stellen denn als aussenstehendes Anhängsel, ist beliebt, offen ist aber die Frage, wie weit das Land in der EU tatsächlich an Einfluss gewänne.

EU-Zugeneigte betonen oft, kleine Länder hätten in EU-Abstimmungsverfahren traditionell ein überproportionales Gewicht und könnten durch Gegengeschäfte quer durch die Themen ihre Stimmkraft wirkungsvoll in politischen Einfluss ummünzen. Angeführt wird etwa, dass Österreich nach heutigen Regeln in dem für die Gesetzgebung zentralen Rat der EU (Ministerrat) 10 Stimmen habe, das von der Einwohnerzahl her zehn Mal so grosse Deutschland dagegen nur 29 Stimmen.

Aber die EU-Entscheidungsmechanismen wandeln sich. Die Hebel kleinerer Länder werden kürzer, und mit dem Übergang vom Nizza-Vertrag, der noch bis 2014 die Abstimmungsregeln prägt, zum kürzlich weitgehend in Kraft getretenen Lissabon-Vertrag nimmt ihre Mitwirkungskraft ab. Unter anderem wird die Einstimmigkeitsregel zunehmend in den Hintergrund gedrängt. Mit dem Lissabon-Vertrag wurde das Regime der Mehrheitsabstimmungen von rund 140 Politikbereichen auf gut 180 Bereiche ausgeweitet. Es wurden vor allem auch neue Kompetenzbereiche der EU-Ebene zugeordnet, etwa die Themen Umwelt, Energie, Tourismus, Katastrophenschutz, Verwaltungs-Zusammenarbeit, humanitäre Hilfe oder - was besonders brisant ist - die Verpflichtung zur Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten. In den neuen Bereichen soll im Rat, im Zusammenspiel mit dem europäischen Parlament, im Prinzip mit qualifiziertem Mehr entschieden werden.

Zudem wird die Mehrheitsregel «weicher», die Hürde für zustimmende Ergebnisse also niedriger. Bis jetzt ist die qualifizierte Mehrheit so definiert, dass im Rat einerseits die Mehrheit der Mitgliedstaaten (14 von 27) zu erreichen ist, anderseits 255 von 345 der den Staaten zugeteilten Stimmen, also eine Quote von knapp 74%. Im Lissabon-Vertrag jedoch ist erstens eine Mehrheit nach Ländern und zweitens eine Stimmenzahl, die 65% der EU-Bevölkerung abdeckt, erforderlich; die «disproportionalen» Länderstimmen verschwinden. Die grossen Länder können künftig also ihr volles Bevölkerungsgewicht einbringen. Die 23 kleineren Staaten bringen nur 46% der Gesamtheit auf die Waage, also keine Mehrheit. Dass vier Staaten zusammen eine Sperrminorität bilden können, darf nicht überschätzt werden.

Man kann einwenden, es sei für die Schweiz selbst bei kurzen Hebeln immer noch besser, mitzumachen, statt draussen zu bleiben und gar keinen Hebel in der Hand zu haben. Dann aber käme die Schweiz in der EU in einen Kreis von Staaten, die ganz anders «ticken». In den EU-Mitgliedsländern prägen primär Regierungen oder nationale Parlamente die Politik. In der Schweiz dagegen sind zum einen Gemeinden und Kantone oft wichtiger als die Bundesebene. Zum andern ist das Volk via direkte Demokratie auf allen Ebenen viel stärker involviert, als man dies in den EU-Staaten kennt.

Das bedeutet, dass die Schweiz im EU-Klub sogar als richtiges Mitglied nicht richtig mitreden könnte. Oft gäbe es gar keine zentrale Schweizer Stimme, weil die entscheidenden Stimmen «zu Hause» und nicht in Brüssel sind. In vielen Fällen würden sich die EU-Politiker und Schweizer Vertreter nicht oder nur mit grossen Schwierigkeiten verstehen. Die Schweizer Spielregeln passen so schlecht zu den EU-Entscheidungsmechanismen, dass sie nur durch radikale Anpassung bzw. Einschränkung der direkten Demokratie EU-verträglich gemacht werden könnten.

Die Kluft zwischen direkter und parlamentarischer Demokratie lässt sich etwa anhand des Übergangs zur Europäischen Währungsunion veranschaulichen. Nachdem die Regierung Kohl mit uniformer Unterstützung durch die deutsche Politik und massiver Staatspropaganda die Einführung des Euro vorangetrieben hatte, stand in der Vorlage zur Schlussabstimmung zur Teilnahme an der Währungsunion im deutschen Parlament im März 1998 zu lesen: «In wenigen Monaten wird der Euro Wirklichkeit. Damit liefert Europa seinen Bürgern und seinen Partnern in aller Welt einen ganz konkreten Beweis für die von den europäischen Völkern frei gewählte Schicksalsgemeinschaft, eine Gemeinschaft des Friedens und des Wohlstands.» Wenn ein solcher Text möglich ist, obwohl das Volk in Deutschland nie gefragt wurde, ob es eine stabile Währung gegen ein politisch zusammengesetztes Konstrukt tauschen wolle, ist zu erwarten, dass eine Schweizer Delegation in einer Sitzung mit EU-Partnern kaum verstanden würde. NZZ. 17. Juli 2010, S. 27


«Man macht sich auch beim besten Verhältnis keine Geschenke»

Urs Bucher, seit 2005 Chef des Integrationsbüros EDA/EVD, ist seit August 09 Botschafter der Schweiz in Japan. In einem Interview zum Schluss seiner Tätigkeit im Integraitonsbüro lässt er in einem Interview der Zeitschift Suisseurope des Intergaritonsbüros verlauten:

Suisseurope: In letzter Zeit ist aber auch der Eindruck entstanden, dass die EU fordernder gegenüber der Schweiz auftritt.

Bucher: Mit dieser Sicht kann ich nicht viel anfangen. Seit ich im EU-Geschäft bin, habe ich die EU nie zurückhaltend erlebt, was Forderungen an die Schweiz betrifft. Auch aus der Länge der Verhandlungen kann man nicht auf die Härte der Positionen schliessen: Das jüngste Abkommen zur Sicherheit im Warenverkehr handelten wir in einem Jahr aus - während sich die Verhandlungen etwa zum Versicherungsabkommen von 1989 über 14 Jahre hinzogen. Geändert hat sich aber, dass die EU in neuen Verhandlungen darauf insistiert, dass die Schweiz nicht nur das bei Vertragsabschluss geltende EU-Recht übernimmt, sondern auch dessen Weiterentwicklungen.

Suisseurope: Bringt die Frage der Weiterentwicklung eine neue Qualität in die bilateralen Beziehungen?

Davon bin ich überzeugt. Wir haben nicht zuletzt aufgrund der Erfahrungen bei der EWR-Abstimmung vor allem in den ersten bilateralen Verhandlungen Wert darauf gelegt, dass in diesen Abkommen das zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses geltende EU-Recht gilt und für Weiterentwicklungen alles offen bleibt. Nach acht Jahren Erfahrung mit diesen Verträgen zeigt sich, dass eine flexible Anpassung an neue Bedürfnisse durchaus unseren Interessen entspricht. In dem Masse, in dem die Schweiz Rechtsentwicklungen der EU mitträgt, müssen ihr aber selbstverständlich Mitwirkungsrechte zugestanden werden. Der Entscheid, ob ein Rechtsakt übernommen wird oder nicht - mit allen damit verbundenen Konsequenzen -, obliegt dabei der Schweiz.

Suisseurope: Bei so viel Entwicklung: Was waren die Konstanten in der Europapolitik?

Eine Konstante war zunächst einmal, dass wir trotz allen objektiven Schwierigkeiten unsere Zusammenarbeit kontinuierlich ausbauen konnten. Eine andere Konstante war, dass ein Teil der Beobachter immer das Ende des bilateralen Wegs beschworen hat. Das war schon während der Verhandlungen über die Bilateralen I der Fall, und auch bei den Bilateralen II wurde deren Scheitern immer in Aussicht gestellt. Sicher ist aber auch, dass es in Zukunft einen starken politischen Willen erfordert, um weiterzukommen.

Suisseurope: Bedeutet Schweizer Europapolitik folglich vor allem «Arbeit» an der Innenfront?

Nun, die Europapolitik befindet sich an der Schnittstelle zwischen Aussen- und Innenpolitik. Wir haben aber auf der Aussenseite in der Regel einen Gesprächspartner, trotz der 27 Mitgliedstaaten: Wir verhandeln mit der EU-Kommission, und deren Position können wir zur Kenntnis nehmen und zu beeinflussen suchen. In der Schweiz ist die Zahl der Akteure ungleich höher. Deren Interessen sind oft sehr unterschiedlich. Umso wichtiger ist es, dass politischen Entscheiden eine offene Ausmarchung vorausgeht, diese Entscheide aber dann in Verhandlungen konsequent vertreten werden können. Der Verhandlungspartner muss die Gewissheit haben, dass die Position des Gegenübers genügend abgesichert ist. Und das ist in der Schweiz mit unserem komplizierten, austarierten, aber eben auch demokratischen System der Entscheidfindung, eine permanente Herausforderung. Suisseurope, Juli 2010, S. 3, http://www.europa.admin.ch/dienstleistungen/00553/01510/01511/01516/index.html?lang=de


Vernebelungstaktik

Auch in der CVP gilt der Bilateralismus heute klar als Königsweg. Doch bei den Christlichdemokraten denkt man zurzeit auch über die Endlichkeit dieser Strategie nach: «Wir sind die Architekten des bilateralen Wegs», meint CVP-Präsident Christophe Darbellay, «wir prüfen aber auch die Möglichkeit eines dritten Wegs neben Bilateralismus und Vollbeitritt. Eine prüfenswerte Variante ist zudem die Reaktivierung des EWR.»

Die CVP hat den Schwyzer Nationalrat Reto Wehrli und den Innerrhoder Ständerat Ivo Bischofberger mit der Ausarbeitung eines Europa-Papiers beauftragt. Das Stimmvolk habe den Bilateralismus wiederholt bestätigt, sagt Bischofberger. Doch die Frage des Verhältnisses zur EU werde sich schon bald wieder stellen, etwa im Zusammenhang mit Kroatien: «Wir sollten das Zeitfenster nutzen, um unsere Beziehung zur EU zu konsolidieren», sagt Bischofberger. So wird denn in der CVP derzeit diskutiert, inwieweit die Schweiz im bestehenden Vertragswerk und bei künftigen Verhandlungen (Acquis) ihre Autonomie und Souveränität wahren kann und welche Alternativen allenfalls offenstehen, eigene Interessen auch als Nichtmitglied einzubringen. «Der EU-Beitritt steht momentan nicht zur Diskussion», sagt Bischofberger, «wir müssen aber vorausdenken.»

Christophe Darbellay hat konkrete Vorstellungen, wie ein möglicher «dritter Weg» aussehen könnte: Persönlich sei er immer für den Bilateralismus eingestanden, stellt er klar, dieser Weg werde der Schweiz aber nicht ewig offenstehen: «Anstatt immer nur negativ über die EU zu reden, sollten wir umgekehrt darüber diskutieren, wie wir unsere Interessen am besten einbringen könnten», sagt er. Es habe nicht viel mit Souveränität zu tun, wenn wir von der EU einfach alles schlucken müssten: «Vielleicht wäre eine Variante EU light zu diskutieren», sagt Darbellay, «wonach die Schweiz an der eigenen Währung, an der Neutralität und an der Direktdemokratie festhielte.» NZZ, 9. Juli 2010, S. 9. Damit betreibt Darbellay Vernebelungstaktik. In den von der EU regulierten Bereichen wird man an der direkten Demokratie nicht festhalten können. Es ist anzunehmen, dass Darbellay das weiss. In den anderen Bereichen besteht diesbezüglich kein Problem, wobei dies eine massive Einschränkung direktdemokratischer Rechte bedeutet, ohne dass damit der Einfluss der Schweiz in der EU auf ein bedeutsames Niveau steigen würde (ca. 3% Stimmengewicht).


Kantone – neue Position in EU-Frage

Das neue Papier zur EU-Politik der Schweiz der Konferenz der Kantonsregierungen (KdK) ist publiziert (http://www.kdk.ch/int/kdk/de/mm.html). Das Kernstück des KdK-Papiers besteht in der Unterstützung der Idee eines Rahmenabkommens, das die Beziehungen zur EU institutionalisieren und effizienter machen soll. Bisher hatten sich die Kantone sehr skeptisch zu einem Rahmenabkommen geäussert. Ein solches «würde die Problematik des Föderalismus im Rahmen des bilateralen Weges zusätzlich verschärfen», meinte im Herbst 2009 der damalige KdK-Präsident Lorenz Bösch in einem NZZ-Interview.

Die Kantone haben sich aus mehreren Gründen neu positioniert, wie Vertreter der KdK im Juli 2010 vor den Medien in Bern erklärten. Zum einen habe die EU in den letzten Jahren sehr deutlich gemacht, dass sich die Schweiz mit dem Abschluss neuer Abkommen immer auch zur Übernahme des sich entwickelnden EU-Rechts verpflichten müsse. Die Zeit der statischen Abkommen sei vorbei. Zum andern habe aber die Schweiz mit dem Zollsicherheitsabkommen («24-Stunden-Regel») einen Vertrag mit mustergültigen Mechanismen für die Übernahme des EU-Rechts abgeschlossen. Diese könnten im Rahmenabkommen verankert werden.

Die Kantone übernehmen damit fast wörtlich die Position des Bundesrats. Demnach soll sich die Schweiz zwar zur Übernahme künftigen EU-Rechts verpflichten, aber keine Automatismen akzeptieren und auf einer «angemessenen Teilnahme an der Entscheidfindung» in Brüssel bestehen. Anpassungen der Verträge müssten «im gegenseitigen Einvernehmen» stattfinden. Für den Fall, dass die Schweiz einer Weiterentwicklung des EU-Rechts nicht Rechnung tragen kann, soll es keine Automatismen und keine Guillotine-Klauseln (Kündigung auch mehrerer anderer Verträge) geben.

Brüssel bekundet allerdings wenig Interesse, auf der Basis des Zollsicherheitsabkommens ein Rahmenabkommen auszuhandeln. «Die EU hat immer klargestellt, dass dieses technische Abkommen sehr speziell ist und sich nicht dazu eignet, generalisiert zu werden», sagte EU-Botschafter Michael Reiterer kurz vor der KdK-Präsentation in einem Interview (NZZ 7. 7. 10). Man wisse um diese Vorbehalte, sagte der Zürcher Justizdirektor Markus Notter. Aber zuerst müsse man verhandeln, erst dann könne das Resultat beurteilt werden. Die in einem Rahmenabkommen festgehaltenen Mechanismen würden nach der Vorstellung der KdK nicht auf die bestehenden Verträge angewandt.

Die Kantone könnten sich vorstellen, einen gemischten Ausschuss zu schaffen, dem Koordinations- und Streitschlichtungsaufgaben übertragen würden und in dem ein institutionalisierter politischer Dialog stattfinden würde. Darin wären auch die Kantone vertreten. Auf keinen Fall will die KdK die Gerichtsbarkeit an ein EU-Gremium oder eine andere supranationale Institution übertragen. Im Rahmenabkommen geregelt werden sollte auch die Beteiligung an den EU-Programmen, findet die KdK.

Mit diesen Vorschlägen und Forderungen haben die Kantone faktisch die Position übernommen, die der Bundesrat vor einem Jahr im Aussenpolitischen Bericht formuliert hat. Nicht zum ersten Mal forderte die KdK auch mehr Mitsprache in der Europapolitik. Sie stellt etwa eine Verfassungsgerichtsbarkeit zur Diskussion für Bundesgesetze, die im Zusammenhang mit bilateralen Verträgen geändert wurden. Die Idee sei erst «angedacht» und werde in den nächsten Monaten konkretisiert, sagte der Schwyzer Georg Hess. NZZ, 8. Juli 2010, S. 9.


Europa-Institut Basel

Das Europa-Institut in Basel erfährt wie andere Europa-Institute, die allerdings eher juristisch ausgerichtet sind, eine konstante Nachfrage, wobei die Hälfte der Studierenden aus dem Ausland stammt. Für manche ist, wie Institutsleiter Georg Kreis sagt, gerade die Unabhängigkeit und Nichtmitgliedschaft der Schweiz in der EU ein Grund, um nach Basel zu kommen. So hätten einige heutige Politiker bzw. Magistraten aus den neuen EU-Ländern an seinem Institut studiert. NZZ, 19. Juli 2010, S. 7


Ringen um Einfluss in EU-Unternehmen

Die Schweizer Arbeitnehmervertreter in internationalen Firmen bemühen sich um Anschluss an den europäischen Betriebsrat. Laut einer EG-Richtlinie von 1994 bzw. ihrer Neufassung von 2009 müssen Firmen mit mindestens 1000 Angestellten in EU-Ländern und einer Mindestpräsenz in mehreren Mitgliedstaaten einen europäischen Betriebsrat unterhalten, der als Arbeitnehmervertretung Rechte auf Informationen und Konsultationen hat.

Weder die EU-Richtlinie noch das Schweizer Gesetz geben hiesigen Arbeitnehmervertretern einen Rechtsanspruch auf Teilnahme am europäischen Betriebsrat. Damit liegt es letztlich an den Unternehmen selbst, wie weit die Schweizer im europäischen Betriebsrat integriert sind. Die Praxis ist sehr unterschiedlich, wie Gespräche mit Schweizer Arbeitnehmervertretern zeigen.

Ein Beispiel voller Integration liefert der ABB-Konzern. Der europäische Betriebsrat umfasst bei der ABB 24 Mitglieder, darunter 2 Vertreter aus der Schweiz. Seit der Gründung des Rats Anfang der 1990er Jahre seien die Schweizer voll dabei, sagt Kurt Rüttiman, Präsident des Angestelltenrats der ABB Schweiz und Mitglied im sechsköpfigen Leitungsausschuss des europäischen Betriebsrats. Die Konzernleitung orientiert den Rat zweimal jährlich über aktuelle Entwicklungen und weitere zwei Mal den Ratsausschuss. Zu den Themen zählen etwa die Geschäftslage, Umstrukturierungen, Sozialleistungen und Managementwechsel. Die Informationen reichen laut Rüttiman zum Teil deutlich über öffentlich verkündete Angaben hinaus.

Eher abgeschnitten vom Informationsfluss sind dagegen die Schweizer Arbeitnehmer von Nokia Siemens Networks. Die 2007 via Fusion entstandene Gruppe beschäftigt weltweit etwa 60000 Personen, davon noch rund 300 in der Schweiz. Während Luxemburg mit nur etwa 50 Beschäftigten im europäischen Betriebsrat der Gruppe vertreten sei, stünden die Schweizer abseits, sagt Heinz Rapaport, Präsident der hiesigen Arbeitnehmervertretung. Er vermutet, dass dies mit der Nichtmitgliedschaft der Schweiz in der EU und im EWR zu tun hat. Der Personalchef des in Finnland domizilierten Konzerns erklärte jüngst, dass das finnische Gesetz die Mitgliedschaft von Schweizern im europäischen Betriebsrat nicht erfordere und dass man keine Sonderregelung für die Schweizer treffen könne.

Informationen holen sich die Schweizer Vertreter oft bei deutschen Kollegen. Heinz Rapaport ist sehr unzufrieden mit dem Status quo. Ob sich die aus Sicht der Schweizer Angestellten negativen Entwicklungen der Ietzten Jahre - überdurchschnittlicher Stellenabbau der Gruppe in der Schweiz sowie zum Teil unbefriedigende Lohnrunden - mit einer Schweizer Präsenz im europäischen Betriebsrat wenigstens teilweise hätten vermeiden lassen, sei allerdings dennoch fraglich.

Eine mittlere Position halten die Schweizer Arbeitnehmervertreter im französischen Alstom-Konzern: Die Schweizer halten 2 der rund 35 Sitze im europäischen Betriebsrat, doch gemessen an der Grösse des Konzernstandorts sei die Schweiz untervertreten, sagt Arbeitnehmervertreter Martin Leeser, der auch im europäischen Betriebsrat sitzt. Die Position der Schweizer Alstom-Arbeitnehmer in Europa sei zudem nicht tief verankert und hänge stark von einzelnen Personen ab.

Gemäss einer Schätzung von 2009 haben rund 60 Unternehmen mit Schweizer Präsenz einen europäischen Betriebsrat. Mehrere Arbeitnehmervertreter betonen, dass der europäische Betriebsrat zum Teil früher und besser informiert werde als die Geschäftsleitung des Schweizer Ablegers. Die Grundhaltungen der Arbeitnehmervertretungen verschiedener Länder seien zudem sehr unterschiedlich: Vertreter aus Ländern wie Frankreich, Italien und Spanien seien eher konfliktorientiert, während Schweizer, Skandinavier und auch Deutsche sich eher pragmatisch und lösungsorientiert gäben.

Die befragten Arbeitnehmervertreter und der Verband Angestellte Schweiz sähen es am liebsten, wenn die Schweiz im Rahmen eines bilateralen Abkommens die EU-Richtlinie hierzulande umsetzen und den Rechtsanspruch für die Vertretung von Schweizern in europäischen Betriebsräten sichern würde. Der Arbeitgeberverband zeigt sich skeptisch: Die EU-Richtlinie sei kompliziert und entspreche nicht den schweizerischen Traditionen. NZZ, 21. Juli 2010, S. 23


Gewerkschaften und EU: Lohnfrage im Zentrum

1998 entschied der Kongress des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB), den europäischen Binnenmarktprozess zu unterstützen, sofern dieser von flankierenden Massnahmen begleitet wird. Im Zuge der Personenfreizügigkeit erreichten die Gewerkschaften einen weitgehenden Schutz des Lohnniveaus. «Doch heute ist an unseren Delegiertenversammlungen die EU-Skepsis mit Händen zu greifen», sagt SGB-Präsident Paul Rechsteiner.

Hauptgrund sind vier Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) von 2007 und 2008. Diese stärkten die Binnenmarktfreiheiten, schwächten aber das gewerkschaftliche Streikrecht und das Leistungsortsprinzip, wonach am gleichen Ort für die gleiche Arbeit der gleiche Lohn bezahlt werden muss. Wenn ein Dienstleister aus einem EU-Staat in einem anderen tätig wird, sind gemäss EuGH gesetzliche Mindestlöhne vor Ort, nicht zwingend aber sozialpartnerschaftliche Tarifverträge einzuhalten.

Zwar haben die Urteile keine direkte Auswirkung auf die Schweiz, wie Rechsteiner einräumt. Doch sei der Druck spürbar, bei den flankierenden Massnahmen Abstriche zu machen. Zudem hätte laut Rechsteiner eine Übername der EuGH-Rechtsprechung als Acquis communautaire – etwa im Zuge eines EU-Beitritts – «inakzeptable Folgen für das Lohnniveau» und würde die Schweizer Sozialpartnerschaft in Frage stellen.

Der SGB versuchte, im Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) Druck gegen die Urteile aufzubauen, doch war die Resonanz ausser im Hochlohnland Luxemburg zunächst gering, wie Rechsteiner in der linken Theoriezeitschrift «Widerspruch» 2009 ernüchtert feststellte. Das Leistungsortsprinzip ist heute laut Rechsteiner im EGB anerkannt, doch fehle es noch an einer Strategie zur Umsetzung auf Ebene der EU-Organe. Laut Rechsteiner misst der SGB die Optionen der Schweiz in der Europapolitik klar an den Folgen für Löhne und Arbeitsplätze. NZZ, 30. Juli 2010, S. 9

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