Deutsch-französischer Militarisierungsturbo Mit der gemeinsamen deutsch-französischen Erklärung vom 22.1.2023 kurbeln Berlin und Paris die EU-Militarisierung an: zu Boden, in der Luft, im Weltraum. Um dieses Waffenarsenal leichter zum Einsatz zu bringen, sollen die Entscheidungsstrukturen der EU weiter zentralisiert werden.
Die EU will in den nächsten Jahren einen gewaltigen Aufrüstungssprung machen. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist willkommener Vorwand, mitnichten aber der Grund (s. https://www.solidarwerkstatt.at/frieden-neutralitaet/das-ziel-nummer-eins-unserer-generation). EU-Kommissionspräsidentin Van der Leyen verkündete im Vorjahr, dass bis 2025 geplant ist, 200 zusätzliche Milliarden in den EU-Staaten für Aufrüstung auszugeben. 2025 wären dann die EU-Militärausgaben um 70 Milliarden höher sein als 2020 – ein realer Zuwachs von über 30%.
Das deutsch-französische Tandem marschiert dabei voran. Anlässlich der Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag des Élysée-Vertrages am 22.1.2023 bekräftigten die Regierungsvertreter von Deutschland und Frankreich diesen Kurs. So heißt es in einem gemeinsamen Beitrag des deutschen Bundeskanzlers Scholz und des französischen Präsidenten Macron in der FAZ: „Die erste große Herausforderung ist für uns, zu gewährleisten, dass Europa noch souveräner wird und über die geopolitischen Kapazitäten verfügt, die internationale Ordnung zu gestalten. Für ein starkes Europa von morgen müssen wir jetzt stärker in unsere Streitkräfte und in die Grundlagen unserer Rüstungsindustrie in Europa investieren.“ (1)
Die nächsten Aufrüstungsschritte
Die deutsche Regierung hat bereits kräftig vorgelegt und ein 100 Milliarden Sondervermögen für die Bundeswehr beschlossen. Das dürfte noch lange nicht das Ende der Fahnenstange sein. Eva Högl, die Wehrbeauftragte des deutschen Bundestages (SPD) fordert mittlerweile, dieses Sondervermögen auf 300 Milliarden aufzustocken. Auch jenseits des Rheins werden die Militarisierungsambitionen immer hektischer. Präsident Macron kündigte im Jänner an, die Militärausgaben des Landes dramatisch aufzustocken – auf insgesamt 400 Milliarden Euro für den Zeitraum von 2024 bis 2030. Im Vergleichszeitraum von 2019 bis 2025 hatte sich der Etat auf 295 Milliarden Euro belaufen – eine Steigerung um 35% (2). Vor allem die Ausgaben für die Atomwaffen sollen erhöht werden.
Rivalität und Kooperation
Hintergrund für diese rüstungspolitischen Ansagen dürfte auch die wachsende Rivalität zwischen Berlin und Paris sein. Lange Zeit konnte eine gewisse Machtbalance in der EU zwischen Deutschland und Frankreich dadurch gefunden werden, dass zwar Deutschland in Wirtschaft und Außenhandel den Ton angab, Frankreich aber die militärische Nummer 1 in der EU war. Wie aus der Grafik ersichtlich, beginnen sich nun auch hier das Kräfteverhältnis zugunsten Berlins zu wenden. 2019 überstiegen die deutschen Militärausgaben erstmals jene von Frankreich. Besonders sauer dürfte den französischen Eliten aufstoßen, dass Berlin mit dem militärischen Führungsanspruch in der EU auch öffentlich nicht hinter dem Berg hält. So unterstrich der neue deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius: „Deutschland ist die größte Volkswirtschaft in Europa. Deswegen sollte es auch unser Ziel sein, die stärkste und am besten ausgestattete Armee in der EU zu haben.“ Sein „Job“ sei es, „die Weichen dafür zu stellen, dass die Zeitenwende gelingt“ (3). Zeitenwende = Durchsetzung des militärischen Führungsanspruchs Deutschlands. Danke für die Klarstellung.
500 Milliarden-Projekt FCAS, 100 Milliarden-Projekt MGCS
Diese Machtrivalität zwischen Deutschland und Frankreich kurbelt die Militärbudgets weiter an, bringt aber auch immer wieder Sand ins Getriebe großer gemeinsamer deutsch-französischer Rüstungsprojekte. Deshalb bemühten sich Scholz und Macron nun beim Treffen anlässlich des 60. Jahrestags des Élysée-Vertrages, die rüstungspolitischen Disharmonien in den Hintergrund zu drängen und den unbedingten gemeinsamen Aufrüstungswillen in den Vordergrund zu stellen. Energisch vorangetrieben werden soll vor allem das Luftkampfsystem Future Combat Air System (FCAS), dessen Kosten auf unglaubliche 500 Milliarden Euro geschätzt werden, und das Kampfpanzersystem Main Ground Combat System (MGCS), das auf etwa 100 Milliarden Euro geschätzt wird.
Auch bei der Militarisierung des Weltraums wollen Berlin und Paris kooperieren. So heißt es in der deutsch-französischen Erklärung: „Deutschland und Frankreich begrüßen ihre verstärkte Zusammenarbeit zur Förderung eines autonomen, unabhängigen und kosteneffizienten Zugangs Europas zum Weltraum, auch mit Blick auf einen gleichzeitigen Transport der Militärsatelliten SYRACUSE und H2SAT ins All durch die Ariane 5 Mitte des Jahres 2023.“ (4)
Auch bei gemeinsamen Militäreinsätzen will man voranschreiten. Der Blick richtet sich dabei nicht nur in die afrikanische Sahel-Region, also den quasi traditionellen europäischen „Hinterhof“, sondern auch Richtung Asien: „Zudem streben wir eine gemeinsame deutsch-französische Übung im Rahmen unserer militärischen Präsenz im Indo-Pazifik an“, heißt es in der deutsch-französischen Erklärung.
Waffen auch zum Einsatz bringen
Die EU-Eliten wollen nicht nur immer mehr Waffen produzieren, sie wollen sie gegebenenfalls auch zum Einsatz bringen. Deshalb ärgern sie sich darüber, dass es noch immer nicht gelungen ist, das Einstimmigkeitsprinzip der EU-Außen- und Sicherheitspolitik zu kippen. Da könnte doch glatt deutsch-französischer Kriegseifer durch pazifistische Bedenkenträger in kleineren Staaten gebremst werden. Damit soll nun endlich Schluss gemacht werden. Schon im Juni 2022 forderte der deutsche Kanzler Scholz die EU-Staaten auf, "die Reihen zu schließen". (https://www.solidarwerkstatt.at/demokratie-politik/die-reihen-schliessen) Nun wird in der deutsch-französische Erklärung nachgesetzt: „Um die EU als geopolitischen Akteur zu stärken und sie auf künftige Erweiterungsschritte vorzubereiten, müssen wir an der Reform der europäischen Institutionen arbeiten. Damit eine erweiterte Europäische Union handlungsfähig bleibt, müssen wir effiziente Entscheidungsprozesse sicherstellen…“. Und weiter: „Kurzfristig müssen wir die Bereiche ausweiten, in denen im Rat Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit getroffen werden, um Blockaden, wie sie entstanden sind, aufzulösen, etwa in bestimmten Bereichen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik…“ (4).
Verlogene Debatte in Österreich
Letzter Punkt ist auch für die österreichische Debatte erhellend: So fordert das schwarz-grüne Regierungsprogramm ebenfalls die Aufhebung des Einstimmigkeitsprinzips in der Außenpolitik. Auch der österreichische Bundespräsident Van der Bellen unterstützte die Aufhebung des Einstimmigkeitsprinzips in der Außen- und Sicherheitspolitik, um den Weg für eine EU-Armee freizumachen (https://www.solidarwerkstatt.at/frieden-neutralitaet/hc-und-vdb-fuer-eu-armee). Interessanterweise hat in diesem Bereich die FPÖ die Nase vorne. Die FPÖ forderte bereits 2013 im „Handbuch freiheitlicher Politik“ die Einrichtung eines aus allen EU-Außen- und Verteidigungsministern bestehenden EU-Sicherheitsrates, in dem „alle sicherheitspolitischen Agenden gebündelt werden“ und „mit Mehrheit abzustimmen“ sind (Seite 285). Das sind die feuchten Träume von Scholz und Macron. Gleichzeitig betonen alle Akteure, dass sie für die Beibehaltung der Neutralität eintreten. Das ist verlogen. Die Aufhebung des Einstimmigkeitsprinzip in der Außenpolitik würde die völlige Zerstörung der österreichischen Neutralität bedeuten. Denn eine glaubwürdige Neutralitäts- und Friedenspolitik lebt von der Unabhängigkeit in der Außenpolitik, insbesondere gegenüber den militärischen Großmächten.
Hier liegt auch das tiefere Geheimnis, warum eine rechtsextreme asoziale Korruptionistenpartei wie die FPÖ immer wieder wie Phönix aus der Asche steigen kann. Die Eliten brauchen sie – als Pseudoopposition, die fortschrittliche EU-Opposition desavouiert, ebenso wie gegebenenfalls als Regierungspartei, die ohne mit der Wimper zu zucken alle Neutralitätsversprechungen fallen lässt, um die EU-Militarisierung voranzubringen. Gerade die Zeiten, in denen die FPÖ an der Regierung beteiligt war, waren Zeiten rasanter Neutralitätsdemontage – von der Beteiligung an den EU-Battelgroups bis zum Mitmachen bei der EU-SSZ (Pesco).
Jene politischen Repräsentanten, die sich auf offener Bühne zanken, sind sich hinter den Kulissen in zentralen Fragen oft durchaus einig: Der neutrale Kleinstaat Österreich ist dem EUphoriker Van der Bellen genauso verhasst wie dem Deutsch-Nationalen Kickl. Gerald Oberansmayr, (Werktstatts-Blatt, Februar 2023), https://www.solidarwerkstatt.at/frieden-neutralitaet/deutsch-franzoesischer-militarisierungsturbo
Quellen:
(1) Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.1.2023
(2) Die strategische Souveränität der EU, 23.1.2023, in: www.german-foreign-policy.com
(3) Pistorius: Bundeswehr soll stärkste Armee der EU werden, n-tv.de 22.01.2023
(4) Deutsch-französische Erklärung, 22.1.2023
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Rechtssicherheit für wen? Eine institutionelle Anbindung bringt der Schweiz nicht mehr, sondern weniger Berechenbarkeit in der Rechtsordnung, schreibt Oliver Zimmer
1995 veröffentlichte die deutsche Politologin Hildrun Abromeit einen bemerkenswerten Aufsatz über die Auswirkungen verschiedener Souveränitätskonzepte auf die politische Praxis. Wer kann dem Gesetzgeber die Zustimmung verweigern? Liegt das Letztentscheidungsrecht bei einer Regierung, einem Gericht, oder sind es die Stimmbürger, die ein Gesetz zurückweisen können? Der Befund der Politologin lautet, pointiert gesagt: Im britischen System hält ein mächtiges, stark mit Exekutive und Verwaltung verbandeltes Parlament die meisten Trümpfe in der Hand. In Deutschland ist das Letztentscheidungsrecht dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten, wobei sich dieses bekanntlich zum Europäischen Gerichtshof (EuGH) hin verschoben hat. Und in der Schweiz können die Stimmbürger ein gewichtiges Veto einlegen.
Abromeit verschweigt keineswegs, dass jedes der drei Systeme Schwächen hat. Doch bei der Rechtssicherheit zeigen sich auch Unterschiede. So weist sie nach, dass die bei einem Verfassungsgericht oder Parlament liegende Souveränität einem Land keineswegs mehr Rechtssicherheit garantiert als die halbdirekte Demokratie der Schweiz. Tendenziell garantiert ein skeptisches Volk, das bei Bedarf das Referendum ergreift oder eine Initiative lanciert, sogar mehr Berechenbarkeit als ein Verfassungsgericht oder ein übermächtiges Parlament.
Wohl nicht zuletzt deshalb, weil die Souveränität in der Schweiz dank Föderalismus und Gemeindeautonomie auf viele Kreise aufgeteilt wird. Auch die Kultur des regelgebundenen Aushandelns, zu der der direktdemokratische Einspruch genauso gehört wie die Konkordanz, ist der Berechenbarkeit des politischen Systems zuträglich. Dagegen hat das deutsche Verfassungsgericht durch seine Macht d.h. durch seine Kompetenzkompetenz, die Rechtsunsicherheit gemäss Abromeit für Bürger und Politiker tendenziell erhöht.
Man sollte die Frage also besser umdrehen: Wer soll in einer Demokratie das Privileg besitzen, durch Einspruch Unberechenbarkeit zu produzieren? Bei eingeschaltetem Mikrofon wird es auf diese Frage in der Schweiz nur eine Antwort geben, zumal in einem Wahljahr: das Stimmvolk, das Parlament und Regierenden periodisch widerspricht. Wer sich schon einmal mit Politikern und Verwaltungsbeamten unterhalten hat, weiss allerdings, dass manche die Beschneidung ihrer Entscheidungskompetenz als kränkend erfahren. Offenbar gilt dies auch für das Eidgenössische Aussendepartement. Zumindest gelangt man zu diesem Schluss, wenn man sich Bundesrat Cassis’ Interview mit der NZZ vom Dezember 2022 zu Gemüte führt. Aufhorchen lässt, was der Aussenminister zu den bevorstehenden Verhandlungen mit der EU sagt: «Der Rahmenvertrag ist die Basis für die Diskussionen. Es wäre unrealistisch, ein ganz neues Modell für die Streitbeilegung zu erwarten.» Mit anderen Worten: Der Ansatz der institutionellen Harmonisierung - mit dem EuGH als Letztentscheidungsinstanz - soll bei den bevorstehenden Verhandlungen als Grundlage dienen.
Gesamthaft bemühte der Vorsteher des EDA im besagten Interview jenes Schweiz-Bild, das schon die Kampagne für das Rahmenabkommen scheitern liess. Das dazugehörige Mantra lautet: Die Schweiz ist klein, und Europa ist gross. Wir müssen uns den Wünschen der EU fügen, sonst werden wir als Volkswirtschaft abgehängt und zementieren unseren Status als ewiger Sonderling. Viele plagt ein schlechtes Gewissen. Dass die EU die Schweiz beim Forschungsprogramm «Horizon» diskriminiert, können jene, die das Argumentarium Brüssels bis in die Sprachregeln internalisiert haben, problemlos nachvollziehen. Je integrierter, desto besser.
Dabei bringen die Befürworter einer engeren institutionellen Anbindung an die EU den Begriff der Rechtssicherheit immer wieder prominent ins Spiel. Allen voran CEOs von Grosskonzernen, Universitätsrektoren sowie auch Thinktanks, die sich als liberal bezeichnen. Unter Rechtssicherheit versteht man hier vor allem verlässliche Regeln für Handel, Industrie und die Vergabe von wissenschaftlichen Forschungsgeldern. Im Prinzip wünscht man sich feste Regeln, die sich der demokratischen Kontrolle entziehen. Doch weil eine solche Forderung in einer partizipatorischen Demokratie wenig Legitimität geniesst, beruft man sich auf die Rechtssicherheit. Dabei müsste man sich verstärkt auch über die Unwägbarkeiten unterhalten, die man sich mit einer institutionellen Anbindung an die EU einhandelt.
Bringt, was demokratiepolitisch bedenklich ist, wirtschaftliche Vorteile? Vielleicht müsste man bei der Beantwortung dieser Frage mit der Feststellung beginnen, dass Unfriendly Takeovers nur Sinn machen, wenn der Bewerber mehr bietet als einen ausgewiesenen Willen zur Macht. Der designierte Eigentümer sollte auch fitter sein als der Übernahmekandidat. Viele der relevanten Daten sind verfügbar: etwa zu Staatsverschuldung und Inflation, zum Arbeitsfrieden, zum Zusammenspiel von Ausbildung und Arbeitsmarkt, zum Bürokratisierungsgrad, zur Unabhängigkeit der Zentralbank, zur Zufriedenheit der Menschen oder zum Wohlstandsniveau. Auch wenn die Schweiz nicht in all diesen Bereichen obenaus schwingt, so hat sie doch bei vielen die Nase deutlich vorn.
Auch zur Frage, ob eine ungesteuerte Zuwanderung die Produktivität einer Volkswirtschaft langfristig steigert, dürften bald seriöse Untersuchungen vorliegen. In der Zwischenzeit gilt: Kurzfristig durch die Personenfreizügigkeit ermöglichte Gewinne werden privatisiert, deren Kosten werden externalisiert. Anders als von Ignazio Cassis im besagten Interview behauptet, nimmt zudem der Anteil der EU am Aussenhandel mit der Schweiz seit Jahren nicht zu, sondern ab. Auch stellt sich die Grundsatzfrage, ob institutionelle Integrationsabkommen den Freiheitsgrad einer offenen Volkswirtschaft nicht auf unzulässige Weise einschränken.
Der Traum von der Herrschaft der Wissenden und Weisen, er ist so alt wie die europäische Geschichte. Diesen Traum in Europa zu verwirklichen, hat sich die EU auf die Fahne geschrieben. Darin liegt der tiefere Grund, weshalb sie beim EuGH nicht kompromissfähig sein kann. Jeder Vertreter der EU weiss das. Und alle, die sich mit der EU befasst haben, müssten es auch wissen. Dieses Modell ist in sich stimmig und besitzt seine eigene Legitimität. Aber es ist unvereinbar mit dem staatspolitischen Kern der Schweiz. Rechtssicherheit ist hier an die Republik der aktiven Bürger gebunden. Sie gründet im demokratischen Letztentscheidungsrecht der Stimmberechtigten.
Oliver Zimmer ist Forschungsdirektor bei CREMA, Center of Research, Economics, Management and the Arts in Zürich. Sein mit dem Ökonomen Bruno S. Frey verfasstes Buch erschien kürzlich beim Berliner Aufbau-Verlag: Mehr Demokratie wagen. Für eine Teilhabe aller. SonntagsZeitung, 26. Februar 2023, S. 23.
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