Offene Fragen nach dem Europa-Entscheid des Bundesrats Der Beschluss des Bundesrats, den Europäischen Gerichtshof (EuGH) ins Zentrum der institutionellen Beziehungen zu setzen, wirft zahlreiche Fragen auf. Die meisten werden erst in den Verhandlungen beantwortet werden. Eine Auslegeordnung:
Welche Wirkung hat die Nichtbeachtung einer Rechtsauslegung durch den Europäischen Gerichtshof? Die Urteile des EuGH sind laut dem von der Schweiz und der EU gemeinsam erstellten «Non-Paper» «zwingend» und keine akademischen Rechtsgutachten. Die Parteien können ein Abkommen suspendieren oder kündigen, wenn sich eine Seite nicht daran hält. Die Möglichkeit gezielter Gegenmassnahmen, deren Verhältnismässigkeit ein Schiedsgericht überprüfen könnte, ist (anders als bei der Rechtsübernahme) nicht vorgesehen. Sie könnte aber in die Verhandlungsmasse aufgenommen werden. Die Entscheide des EuGH sind im Übrigen EU-intern grundsätzlich bindend für die Kommission. Diese dürfte Mühe haben, ein Auge zuzudrücken, wenn die Schweiz ein Urteil ignoriert. Werden in einem Rahmenabkommen die Suspendierung und die Kündigung eines Abkommens als einzige Möglichkeiten definiert, müsste die Schweiz bei einem Abweichen wohl in den allermeisten Fällen einen unannehmbaren Preis bezahlen.
Wie geht der EuGH mit Verträgen um, die nach dem Prinzip der Anerkennung gleichwertiger Gesetzgebung funktionieren? Viele bilaterale Abkommen basieren nicht direkt auf dem EU-Recht. Das Abkommen über die Personenfreizügigkeit verpflichtet die Schweiz nicht, die Entsenderichtlinie zu den Dienstleistungsanbietern wörtlich zu übernehmen. Sie muss nur gleichwertige Massnahmen ergreifen. Wie der EuGH, der sonst EU-Recht interpretiert, die Gleichwertigkeit beurteilt, ist für die Schweiz wie auch für die EU eine offene Frage. Im «Non-Paper» wird das Thema nicht angesprochen.
Müssen die flankierenden Massnahmen modifiziert werden? Der Bundesrat sagt kategorisch Nein. Ob es sich hier um eine rote Linie handelt oder um ein Verhandlungsziel, bleibt abzuwarten. Fast undenkbar ist, dass der EuGH die heutige Voranmeldefrist («8-Tage-Regel») für Dienstleistungen über die Grenze stützt, wenn die Parteien nicht eine entsprechende Sonderregelung aushandeln. Auch das ist schwer vorstellbar. Entscheidend wird sein, ob im Bereich der flankierenden Massnahmen das Äquivalenzprinzip gilt oder ob die Schweiz die EU-Regeln tel quel übernehmen muss. Im letzteren Fall wären gewisse Bestimmungen zu Mindestlöhnen oder Normalarbeitsverträgen akut in Gefahr – immer vorausgesetzt, die EU-Kommission will sich überhaupt damit beschäftigen. Tut sie es, steht sie als Überwachungsinstanz der EU unter einem Handlungszwang; Pragmatismus dürfte wegen dieses Selbstverständnisses der Kommission Grenzen haben. Welche Rolle erhält die EU-Kommission bei der Überwachung? Diese Frage wurde bisher kaum thematisiert. Das «Non-Paper» hält dazu fest: «Grundsätzlich überwacht die Kommission die Umsetzung der Abkommen EU - CH durch die beiden Parteien. Insbesondere durch die Arbeiten in den Gemischten Ausschüssen. Die Kommission hat die Möglichkeit, den EuGH anzurufen. Je nach Sektor könnte die Kommission auch die Möglichkeit haben, Untersuchungen durchzuführen oder Entscheide zu fällen. Die Agenturen oder andere Organe der EU könnten, je nach Erfordernissen eines Wirtschaftssektors, eine Rolle innehaben bei der Umsetzung der Abkommen.» Was das genau bedeutet, wird sich weisen. Die EU-Diplomaten wollten offenbar festhalten, dass der Verzicht auf ein übergeordnetes Überwachungsorgan nicht bedeute, dass die Kommission bei der Überwachung eine passive Rolle spielen werde.
Könnte das Parlament dem Bundesgericht mit einem Gesetz verbieten, ein EuGH-Urteil zu beachten? Es könnte, aber selbst Bundesrat Didier Burkhalter zweifelte an dieser Idee, zumal die EU ja das Abkommen kündigen könnte und es dann für die Lausanner Richter auch nichts mehr auszulegen gäbe. Das Bundesgericht muss EU-Recht gemäss EuGH-Praxis interpretieren, auch wenn die Schweiz sich auf der politischen Ebene gegen ein Urteil der Richter in Luxemburg sperrt. Diese Aussicht dürfte die Exekutive eher hemmen, einen EuGH-Richterspruch nicht umzusetzen.
Wie wird der EuGH entscheiden? Das Gericht hat hinlänglich bewiesen, dass es für eine Instrumentalisierung durch die Politik nicht zu haben ist. Der EuGH ist aber selbst ein politischer Faktor und ein Integrationsmotor. Viele Schritte auf dem Weg zum heutigen Binnenmarkt gehen auf integrationsfreundliche Urteile des Gerichtshofs zurück. Als Wächter über den Binnenmarkt schlägt das Herz des EuGH naturgemäss für Marktöffnung und Liberalisierung und weniger für flankierende Massnahmen in den Arbeitsmärkten. Diese Identität wird der EuGH bei der Interpretation bilateraler Verträge kaum abstreifen.
Für welche bilateralen Abkommen soll das Rahmenabkommen gelten? Das «Non-Paper» gibt keinen Anhaltspunkt. Der Bundesrat will nur die Binnenmarktabkommen unterstellen. Denkbar wäre, wesensverwandte Abkommen wie das Freihandelsabkommen von 1972 den neuen Regeln zu unterstellen. Es wäre allerdings kaum im Interesse der Schweiz, auch noch klassische völkerrechtliche Verträge der Deutungshoheit des EuGH zu unterstellen. NZZ, 24. August 2013, S. 11
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Neue Europäische Bewegung für verbindliche EU-Gerichtsentscheide Die Neue Europäische Bewegung Schweiz (Nebs) betrachtet es als „sachgemäss“, dass der EuGH die von der Schweiz übernommenen Bereiche des EU-Rechts auslegt. Um die Rechtssicherheit zu gewährleisten, sollen entsprechende Gutachten verbindlich sein. „Konsequenterweise muss die Schweiz auch die Möglichkeit erhalten, einen Richter am EuGH zu stellen“, fordert die Nebs völlig unrealistisch. „Weiter sollen die Schweizer Bürger den EuGH direkt anrufen können“ Bern, 21. August 2013, Neue Europäische Bewegung Schweiz [newsletter@europa.ch]
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